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auf der Richterbank liegen Barett und Arbeitsmappe, dahinter ein Richterstuhl, auf dem eine Robe hängt

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Urteil vom 22. November 2012, III R 64/11

Fahrtkosten eines nebenberuflich studierenden Kindes

BFH III. Senat

EStG § 9 Abs 1 S 1, EStG § 9 Abs 1 S 3 Nr 4, EStG § 32 Abs 4 S 2, EStG VZ 2009 , EStG § 2 Abs 2

vorgehend FG Köln, 13. July 2011, Az: 10 K 1009/10

Leitsätze

1. Bei der Prüfung, ob der Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. überschritten ist, sind Fahrtkosten eines Kindes, die ihm aus Anlass eines nebenberuflich ausgeübten Studiums entstehen, nicht mit der Entfernungspauschale zu berücksichtigen, sondern in tatsächlicher Höhe von den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit abzuziehen.    

2. Eine vom Kind als Arbeitnehmer aufgesuchte arbeitgeberfremde Bildungseinrichtung stellt keine regelmäßige Arbeitsstätte dar.

Tatbestand

I.

  1. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) hat einen Sohn (S), der im Juni 2008 seine Ausbildung zum Steuerfachangestellten erfolgreich abschloss und anschließend im erlernten Beruf arbeitete. Ab September 2008 nahm er ein berufsbegleitendes Studium an einer Fachhochschule im Fachbereich Steuerrecht auf. Seitdem arbeitete er 28 Wochenstunden als Angestellter in einer Steuerberaterkanzlei und besuchte an zwei bis drei Terminen je Woche (abends und auch an Samstagen) die Fachhochschule in A bzw. B.

  2. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) gewährte für den Streitzeitraum Februar bis Dezember 2009 kein Kindergeld, weil der Grenzbetrag ihres Erachtens überschritten war. Bei ihrer Berechnung berücksichtigte sie die Fahrten des S zur Fachhochschule nicht mit den tatsächlich angefallenen Kosten, sondern setzte lediglich die Entfernungspauschale an. Auf diese Weise ermittelte sie Aufwendungen in Höhe von 1.363,50 €. Hieraus ergab sich eine Überschreitung des Grenzbetrags um 276 €.

  3. Die Klägerin wandte sich im Einspruchs- und im Klageverfahren erfolglos gegen die Ablehnung ihres Kindergeldantrags.

  4. Mit ihrer Revision bringt die Klägerin vor, dass ihrem Sohn Werbungskosten in Form von Fortbildungskosten in dem erlernten und ausgeübten Beruf entstanden seien. Zu diesen Kosten gehörten auch die Fahrtkosten zur Bildungseinrichtung. Sie seien grundsätzlich in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen. Eine Einschränkung sei nur bei Fahrten zu solchen Orten gerechtfertigt, an denen der Arbeitnehmer schwerpunktmäßig tätig werde. S werde aber schwerpunktmäßig in der Steuerberaterkanzlei tätig. Der Besuch der Fachhochschule sei demgegenüber hinsichtlich des zeitlichen Umfangs nachgeordnet und zudem befristet. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) beruhe noch auf der zwischenzeitlich aufgegebenen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Arbeitnehmern mit mehreren Arbeitsstätten. Es könne daher keinen Bestand haben.

  5. Die Klägerin beantragt, die Familienkasse unter Aufhebung des Urteils der Vorinstanz, des Ablehnungsbescheids vom 4. Februar 2010 und der Einspruchsentscheidung vom 2. März 2010 zu verpflichten, für S Kindergeld für die Monate Februar bis Dezember 2009 festzusetzen.

  6. Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

  7. Im vorliegenden Fall sei nicht "eine" (Gesamt-)Tätigkeit des Steuerpflichtigen, die sich in "Untertätigkeiten" aufgliedere, zu beurteilen, sondern verschiedene, nebeneinander bestehende Tätigkeiten. Der Streitfall sei daher mit der Konstellation gleichzustellen, in welcher der Steuerpflichtige zwei isolierten Beschäftigungen in Form von zwei verschiedenen Arbeitsverhältnissen nachgehe. Für jede dieser Beschäftigungen sei dann die jeweils "eine" regelmäßige Arbeitsstätte festzustellen. Die von der Klägerin angeführten Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) seien daher nicht einschlägig, weil der Arbeitnehmer in den dort entschiedenen Fällen im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses verschiedene Tätigkeitsorte aufsuchte. Auch das BFH-Urteil vom 10. April 2008 VI R 66/05 (BFHE 221, 35, BStBl II 2008, 825) zwinge zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung, weil das Studium des S im Streitfall mit einem unbefristeten Arbeitsverhältnis verglichen werden könne.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils, des Ablehnungsbescheids vom 4. Februar 2010 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 2. März 2010 (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die Klägerin hat für den Streitzeitraum einen Anspruch auf die Festsetzung von Kindergeld für S.

  2. 1. a) Für ein Kind, das ‑‑wie S im Streitzeitraum‑‑ das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und sich in Ausbildung befindet, besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes  in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) ein Anspruch auf Kindergeld nur, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.680 € im Kalenderjahr hat. Der Begriff der Einkünfte entspricht dem in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen. Erzielt das Kind Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Bruttoeinnahmen die Werbungskosten abzuziehen (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsurteile vom 29. Mai 2008 III R 33/06, BFH/NV 2008, 1664; vom 22. Oktober 2009 III R 101/07, BFH/NV 2010, 200).

  3. b) Nach § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG bleiben bei der Ermittlung der schädlichen Grenze von 7.680 € Bezüge außer Ansatz, die für besondere Ausbildungszwecke bestimmt sind bzw. Einkünfte, die für solche Zwecke verwendet werden. Solche besonderen Ausbildungskosten sind alle über die Lebensführung hinausgehenden ausbildungsbedingten Mehraufwendungen. Ausbildungsbedingte Mehraufwendungen, die nicht bereits als Werbungskosten (§ 9 EStG) im Rahmen einer Einkunftsart des Kindes berücksichtigt werden, sind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG von der Summe der Einkünfte und Bezüge abzuziehen. Dabei erfolgt die Abgrenzung zwischen Kosten der Lebensführung und dem ausbildungsbedingten Mehrbedarf in der Weise, wie dies im Rahmen eines Ausbildungsdienstverhältnisses zwischen den Kosten der Lebensführung und den durch den Beruf veranlassten Kosten (Werbungskosten) geschieht. Es sind die den Abzug der jeweiligen Aufwendung betreffenden steuerlichen Vorschriften dem Grunde und der Höhe nach zu beachten (BFH-Urteil vom 22. September 2011 III R 38/08, BFHE 235, 331, BStBl II 2012, 338, m.w.N.).

  4. c) Die in § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG genannten Voraussetzungen für den Abzug von Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit können auch bei berufsbezogenen Bildungsmaßnahmen erfüllt sein (BFH-Urteil vom 27. Oktober 2011 VI R 52/10, BFHE 235, 444, BStBl II 2012, 825). Als Werbungskosten abziehbar sind sämtliche Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der beruflichen Bildungsmaßnahme stehen. Hierzu gehören auch Fahrt- bzw. Mobilitätskosten. Sie sind grundsätzlich gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen. Eine Einschränkung für den Abzug von Fahrtkosten sieht das Gesetz in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG nur für die Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte vor. Eine vom Arbeitnehmer besuchte arbeitgeberfremde Bildungseinrichtung stellt ‑‑unabhängig davon, ob die Bildungsmaßnahme die volle Arbeitszeit des Steuerpflichtigen in Anspruch nimmt oder neben einer Voll- oder Teilzeitbeschäftigung ausgeübt wird‑‑ nach der Rechtsprechung des VI. Senats des BFH keine regelmäßige Arbeitsstätte in diesem Sinne dar (BFH-Urteile vom 9. Februar 2012 VI R 44/10, BFHE 236, 431; vom 9. Februar 2012 VI R 42/11, BFHE 236, 439). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an.

  5. 2. Die Vorentscheidung entspricht diesen Grundsätzen nicht. Sie ist daher aufzuheben.

  6. a) Die Kosten des S für das Fachhochschulstudium sind als (vorweggenommene) Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen. Den erforderlichen Veranlassungszusammenhang hat das FG zu Recht bejaht. Um Kosten der Berufsausbildung i.S. von § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG handelt es sich nicht (vgl. BFH-Urteil vom 18. Juni 2009 VI R 14/07, BFHE 225, 393, BStBl II 2010, 816).

  7. § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 und § 12 Nr. 5 EStG i.d.F. des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes (BeitrRLUmsG) vom 7. Dezember 2011 (BGBl I 2011, 2592), die nach § 52 Abs. 12, 23d und 30a EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG rückwirkend ab dem Veranlagungszeitraum 2004 gelten sollen, stehen dem Werbungskostenabzug im Streitfall schon deshalb nicht entgegen, weil S vor Beginn seines berufsbegleitenden Studiums an der Fachhochschule bereits eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten durchlaufen und damit eine erste Berufsausbildung im Sinne dieser Vorschriften absolviert hat (BFH-Urteile in BFHE 236, 431 und in BFHE 236, 439).

  8. Da es sich bei den streitigen Aufwendungen folglich um Werbungskosten handelt, die unmittelbar bei der Ermittlung der Einkünfte des S i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu berücksichtigten sind, bedarf es keiner ‑‑systematisch nachrangigen‑‑ Korrektur der Einkünfte und Bezüge gemäß § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG (sog. ausbildungsbedingter Mehrbedarf).

  9. b) Das FG ist ‑‑in Übereinstimmung mit der früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 29. April 2003 VI R 86/99, BFHE 202, 299, BStBl II 2003, 749)‑‑ davon ausgegangen, dass eine arbeitgeberfremde Bildungseinrichtung grundsätzlich eine regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 1 EStG mit der Folge der Anwendung der Entfernungspauschale darstellen kann. Dies ist jedoch nicht zutreffend. Zur Begründung ist auf die BFH-Urteile in BFHE 236, 431 und in BFHE 236, 439 zu verweisen.

  10. 3. Die Sache ist spruchreif. Der Senat kann durcherkennen. Die Anzahl der Fahrten und die Entfernung zwischen der Wohnung des S und der in A bzw. B gelegenen Fachhochschule sind, wie die übrigen Positionen der Berechnung (Bruttolohn, Sozialversicherungsbeiträge u.a.), zwischen den Beteiligten unstreitig. Die tatsächlichen Aufwendungen hat die Klägerin zulässigerweise mit den in H 9.5 des Lohnsteuerhandbuchs 2009 vorgesehenen Pauschalen von 0,30 € je Fahrtkilometer, mithin mit insgesamt 2.727 € berechnet. Die Familienkasse hat die Fahrtaufwendungen bislang lediglich in Höhe der Entfernungspauschale, also mit der Hälfte des genannten Betrags berücksichtigt. Werden im Rahmen der Grenzbetragsprüfung weitere Kosten des S in Höhe von 1.363,50 € berücksichtigt, dann ist der Grenzbetrag unterschritten.

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