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Urteil vom 12. Januar 2022, II R 11/20

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

ECLI:DE:BFH:2022:U.120122.IIR11.20.0

BFH II. Senat

FGO § 76 Abs 2, FGO § 119 Nr 3, GG Art 103 Abs 1

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 14. August 2019, Az: 3 K 3113/17

Leitsätze

NV: Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf rechtliche Erwägungen stützt, auf die es nicht hingewiesen hatte und mit denen die Beteiligten nicht rechnen mussten.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 14.08.2019 - 3 K 3113/17, soweit es den Einheitswertbescheid (Zurechnungsfortschreibung) betrifft, sowie im Kostenpunkt aufgehoben.

Die Sache wird im vorbezeichneten Umfang an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, hatte mit notariell beurkundetem Vertrag vom …2015 ein dinglich gesichertes Dauernutzungsrecht i.S. von § 31 Abs. 2 des Wohnungseigentumsgesetzes an vier PKW-Tiefgaragenplätzen erworben. Die Umschreibung im Grundbuch erfolgte im selben Jahr.

  2. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) sah in dem Dauernutzungsrecht an den vier Stellplätzen eine zusammengefasste wirtschaftliche Einheit des Grundvermögens, die er mit Bescheid vom 11.09.2015 im Wege der Zurechnungsfortschreibung auf den 01.01.2016 (Zurechnungsfortschreibungsbescheid) der Klägerin zurechnete. Wert und Art des Grundstücks ("sonstiges bebautes Grundstück auf fremdem Grund und Boden") blieben unverändert.

  3. Der Einspruch, mit dem die Klägerin geltend machte, ein Dauernutzungsrecht unterliege nicht der Grundsteuer, blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 18.05.2017). Das FA ging davon aus, das Grundstück sei ab dem 01.01.2016 der Klägerin und nicht mehr der zivilrechtlichen Eigentümerin zuzurechnen. Deshalb sei nach § 22 Abs. 2 Alternative 2 i.V.m. § 19 Abs. 3 Nr. 2 des Bewertungsgesetzes (BewG) eine Zurechnungsfortschreibung an die Klägerin vorzunehmen. Das Dauernutzungsrecht sei im konkreten Fall inhaltlich so ausgestaltet, dass die Stellplätze ab dem 01.01.2016 der Klägerin als wirtschaftliche Eigentümerin (§ 39 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung) zuzurechnen seien.

  4. Mit ihrer Klage vor dem Finanzgericht (FG) machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, ein Dauernutzungsrecht sei kein Grundvermögen i.S. des § 68 Abs. 1 BewG. Es unterfalle daher nicht der Grundsteuer. Nach entsprechendem Verzicht der Beteiligten wies das FG die Klage ohne mündliche Verhandlung als unzulässig ab. Der Zurechnungsfortschreibungsbescheid auf der Rechtsgrundlage des § 22 Abs. 2 Alternative 2 BewG regele nicht, was als Grundvermögen zu erfassen sei. Die Zurechnung selbst bestreite die Klägerin nicht. Ihr Rechtsschutzziel, das Dauernutzungsrecht nicht (mehr) als Grundstück zu behandeln, könne sie deshalb nur durch einen Antrag auf Aufhebung des Zurechnungsfortschreibungsbescheids nach § 24 Abs. 1 BewG analog verfolgen. Ein Antrag nach § 24 Abs. 1 BewG bliebe jedoch aus sachlichen Gründen ohne Erfolg. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2020, 1822 veröffentlicht.

  5. Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung rechtlichen Gehörs durch Vorliegen einer Überraschungsentscheidung (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑, § 119 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) sowie sinngemäß eine Verletzung von § 22 Abs. 2 Alternative 2 i.V.m. § 19 Abs. 3 Nr. 2, § 24 Abs. 1 Nr. 1, § 68 BewG. Ihre Klage sei überraschend und zu Unrecht als unzulässig abgewiesen worden. Weder das FG noch das FA hätten sie jemals auf eine mögliche Unzulässigkeit hingewiesen. Die Rechtmäßigkeit des Zurechnungsfortschreibungsbescheids bei einem Dauernutzungsrecht sei zutreffend im Verfahren nach § 22 Abs. 2 Alternative 2 i.V.m. § 19 Abs. 3 Nr. 2, § 68 BewG zu prüfen und nicht Gegenstand eines Verfahrens gemäß § 24 BewG.

  6. Die Klägerin beantragt sinngemäß,
    die Vorentscheidung, den Zurechnungsfortschreibungsbescheid vom 11.09.2015 und die Einspruchsentscheidung vom 18.05.2017 aufzuheben.

  7. Das FA beantragt,
    die Revision zurückzuweisen.

  8. Die analoge Anwendung von § 24 Abs. 1 BewG sei rechtmäßig. Habe die wirtschaftliche Einheit von vornherein nicht bestanden, sei der Einheitswert im Wege einer fehlerbeseitigenden Aufhebung entsprechend § 24 Abs. 1 BewG aufzuheben. Schließlich sei die wirtschaftliche Einheit der Klägerin ab dem 01.01.2016 als wirtschaftliche Eigentümerin für Zwecke der Grundsteuer zuzurechnen gewesen.

  9. Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung insoweit, als das FG die Klage gegen den Einheitswertbescheid (Zurechnungsfortschreibung) als unzulässig abgewiesen hat. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 76 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO, Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

  2. 1. Die Klägerin hat im Revisionsverfahren ‑‑anders als im Verfahren vor dem FG‑‑ nur noch die Aufhebung des Einheitswertbescheids, nicht aber des Grundsteuermessbescheids beantragt. Die Vorentscheidung ist insoweit rechtskräftig.

  3. 2. Dass das FG die Klage gegen den Einheitswertbescheid als unzulässig abgewiesen hat, stellt eine rechtswidrige Überraschungsentscheidung dar, mit der der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt worden ist.

  4. a) Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Verfahrensbeteiligten haben einen Anspruch darauf, dass das Gericht sie auch in rechtlicher Hinsicht auf entscheidungserhebliche Erwägungen und Gesichtspunkte hinweist, mit denen sie erkennbar nicht gerechnet haben und auch nicht rechnen mussten (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 07.08.2002 - I R 45/01, BFH/NV 2003, 173, unter II.2.a). Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt stützt und dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen nicht rechnen musste. Dies kann u.a. der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom FG erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (BFH-Beschluss vom 04.03.2020 - XI B 30/19, BFH/NV 2020, 611, Rz 7).

  5. b) Im Streitfall hat das FG die analoge Anwendung von § 24 Abs. 1 BewG, auf die es sein Urteil maßgebend gestützt hat, zum ersten Mal im Endurteil erwähnt. Diese Vorschrift wurde weder im Verwaltungsverfahren ‑‑die Einspruchsentscheidung wurde auf § 22 Abs. 2 Alternative 2 i.V.m. § 19 Abs. 3 Nr. 2 BewG gestützt‑‑ noch im gerichtlichen Verfahren angesprochen. Das Gericht hatte die Beteiligten trotz ihres Verzichts auf die mündliche Verhandlung nicht darauf hingewiesen, dass aus seiner Sicht die Zulässigkeit der Klage problematisch sein könnte. Die Beteiligten gingen vielmehr davon aus, dass über die Rechtsfrage zu entscheiden sei, ob das Dauernutzungsrecht an den Tiefgaragenplätzen eine wirtschaftliche Einheit gemäß § 68 BewG darstelle. So hat das FG es auch im Tatbestand dargestellt.

  6. c) Ein Verlust des Rügerechts nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung kommt schon deswegen nicht in Betracht, weil die Verletzung des rechtlichen Gehörs erst durch Kenntnis der Entscheidungsgründe des Urteils offenbar wurde (vgl. dazu BFH-Urteil vom 05.09.2001 - I R 101/99, BFH/NV 2002, 493, unter II.2.).

  7. 3. Nach § 119 Nr. 3 FGO ist das Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war. Hier ist streitig, ob die Klägerin Rechtsschutz im zutreffenden Verfahren gesucht hat. Dies betrifft das Gesamtergebnis des Verfahrens und nicht nur einzelne Feststellungen oder Rechtsfragen. Daher kommt nur die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO in Betracht. Soweit das FG ergänzende Überlegungen zur materiell-rechtlichen Rechtmäßigkeit einer Einheitswertfeststellung für das Dauernutzungsrecht angestellt hat, waren diese nicht tragend und vermögen deshalb kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen.

  8. 4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

  9. 5. Das Urteil ergeht ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).

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