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Beschluss vom 30. April 2025, XI B 72/24

Klagebefugnis bei unberechtigtem Steuerausweis und Ausführungen zur Begründetheit bei unzulässiger Klage

ECLI:DE:BFH:2025:B.300425.XIB72.24.0

BFH XI. Senat

FGO § 40 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 116 Abs 5 S 2 Halbs 2, FGO § 116 Abs 6, FGO § 143 Abs 2, UStG § 2 Abs 2 S 1, UStG § 14c Abs 2 S 1, UStG VZ 2010 , UStG VZ 2012 , UStG VZ 2013

vorgehend Hessisches Finanzgericht , 18. April 2024, Az: 8 K 173/22

Leitsätze

1. NV: Ein Kläger, der in seinen Rechnungen unberechtigt Umsatzsteuer ausgewiesen hat und diese nach § 14c Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes schuldet, kann geltend machen, durch die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide diesbezüglich im Sinne von § 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung beschwert zu sein.

2. NV: Die materielle Sachprüfungsbefugnis des Finanzgerichts ist nur eröffnet, wenn es die Zulässigkeit der Klage festgestellt hat. Erwägungen zur Begründetheit bei einer als unzulässig bewerteten Klage sind verfahrensfehlerhaft und gelten als "nicht geschrieben" (Anschluss an Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.07.2023 - 2 C 7.22, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2024, 476).

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 18.04.2024 - 8 K 173/22 aufgehoben, soweit es die Umsatzsteuer für die Jahre 2010, 2012 und 2013 betrifft.

Die Sache wird insoweit an das Hessische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.

Dem Finanzgericht wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Beteiligten streiten über Qualifikation und Höhe von Einkünften des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) in den Jahren 2002 bis 2014 (Streitjahre).

  2. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) hat am 30.11.2017 Einkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheide für die Jahre 2002 bis 2014 sowie Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2009 bis 2014 erlassen, die nach Einsprüchen des Klägers unter dem 20.02.2018 teilweise geändert wurden. Im Übrigen wies das FA die Einsprüche des Klägers als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 19.06.2018).

  3. Das Finanzgericht (FG) wies mit Urteil vom 18.04.2024 die Klage im Haupt- und Hilfsantrag ab. Es entschied unter anderem, dass der "Hilfsantrag … hinsichtlich der angegriffenen Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2010, 2012, 2013 und 2014 unzulässig, und im Übrigen unbegründet" sei. Der Kläger habe in seinen Rechnungen selbst Umsatzsteuer ausgewiesen, so dass er diese nach § 14c Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) schulde. Diesbezüglich könne der Kläger nicht geltend machen, durch die Umsatzsteuerbescheide im Sinne von § 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beschwert zu sein. In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils führte das FG zur Umsatzsteuer ferner aus, dass der Kläger, der als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG (in der in den Streitjahren geltenden Fassung) durch die Vermittlung von Finanzierungen steuerfreie Umsätze ausgeführt habe, die von ihm in seinen Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer nach § 14c Abs. 2 Satz 1 UStG selbst dann schulde, wenn er kein Unternehmer gewesen sei.

  4. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das FG. Er macht einen Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend und rügt die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Der Kläger bringt im Wesentlichen vor, dass das FG die Klage gegen die Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2010, 2012 und 2013 durch Prozessurteil abgewiesen habe, weil es dem Kläger verfahrensfehlerhaft die Beschwer abspreche und eine Rechtsverletzung gemäß § 40 Abs. 2 FGO verneine. Die Umsatzsteuer der Streitjahre sei in den jeweiligen ertragsteuerlichen Veranlagungen der Jahre 2010, 2012 und 2013 gewinnerhöhend berücksichtigt worden, weshalb damit zugleich zumindest auch die Einkommensteuerfestsetzungen und die Festsetzungen des Gewerbesteuermessbetrages dieser Streitjahre betroffen seien.

  5. Der Kläger beantragt, das angegriffene Urteil insgesamt aufzuheben und den Rechtsstreit insgesamt an das FG zurückzuverweisen, um diesem "eine in sich schlüssige Beurteilung aller Streitjahre" zu ermöglichen.

  6. Das FA beantragt sinngemäß, die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.

  7. Es ist der Ansicht, dass der Kläger den geltend gemachten Revisionszulassungsgrund schon nicht in einer den gesetzlichen Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügenden Form dargelegt habe. Der geltend gemachte Verfahrensfehler im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liege jedenfalls nicht vor, so dass weder die Revision zuzulassen noch die Vorentscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und der Streitfall an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen sei.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wurde durch Beschluss des Präsidiums des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 05.12.2024 dem XI. Senat des BFH zugewiesen (zur Zuständigkeit des Präsidiums nach § 21e des Gerichtsverfassungsgesetzes s. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 05.10.1999 - X ARZ 247/99, Neue Juristische Wochenschrift 2000, 80, unter II.); er ist daher für das Verfahren insgesamt zuständig.

III.

  1. Die Beschwerde ist, soweit sie die Umsatzsteuer für die Jahre 2010, 2012 und 2013 betrifft, begründet; der gerügte Verfahrensfehler liegt insoweit vor. Das FG hat hinsichtlich dieser selbständigen Streitgegenstände zu Unrecht allein durch Prozessurteil entschieden. Dies führt insoweit zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO). Hinsichtlich der gleichfalls allein durch Prozessurteil entschiedenen Umsatzsteuer für das Jahr 2014 hat der Kläger keinen Verfahrensfehler geltend gemacht. Dagegen hat das FG im Übrigen auch in der Sache entschieden. Die vom Kläger hiergegen erhobenen Einwendungen führen nicht zur Zulassung der Revision. Die Beschwerde ist insoweit als unbegründet zurückzuweisen.

  2. 1. Das FG hat hinsichtlich der Umsatzsteuer für die Jahre 2010, 2012 und 2013 die Klagebefugnis des Klägers nach § 40 Abs. 2 FGO in einer im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO verfahrensfehlerhaften Weise verneint.

  3. a) Nach der Rechtsprechung des BFH liegt ein Verfahrensmangel vor, wenn über eine zulässige Klage nicht in der Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom 30.08.2023 - X B 58/23, BFH/NV 2023, 1327, Rz 10 f.; vom 18.07.2024 - V B 68/23, BFH/NV 2024, 1145, Rz 8).

  4. b) Gemäß § 40 Abs. 2 FGO ist die Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt (oder dessen Unterlassung) in seinen Rechten verletzt zu sein. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Klagebefugnis gegeben, wenn es nach dem Klagevorbringen als zumindest möglich erscheint, dass das Behördenhandeln eigene subjektiv-öffentliche Rechte des Klägers verletzt (Möglichkeitstheorie; vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 30.08.2023 - X B 58/23, BFH/NV 2023, 1327, Rz 12; vom 18.07.2024 - V B 68/23, BFH/NV 2024, 1145, Rz 9). Dies ist regelmäßig zu bejahen, wenn der Kläger Adressat eines belastenden Verwaltungsakts ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn offensichtlich und nach keiner Betrachtungsweise subjektive Rechte des Klägers verletzt sein können (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 14.12.2021 - VIII R 16/20, BFHE 274, 400, BStBl II 2022, 380, Rz 28, m.w.N.).

  5. c) Danach hat das FG die Klagebefugnis des Klägers verfahrensfehlerhaft verneint, soweit es die Klage wegen Umsatzsteuer für die Jahre 2010, 2012 und 2013 als unzulässig abgewiesen hat.

  6. aa) Die Klagebefugnis ergibt sich bereits aufgrund dessen, dass der Kläger Adressat belastender Verwaltungsakte ist, soweit er sich gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Jahre 2010, 2012 und 2013 wendet, auf die er sich mit seiner Beschwerde bezieht. Für die Annahme der Klagebefugnis im Sinne des § 40 Abs. 2 FGO reicht es aus, dass der Kläger insoweit sinngemäß geltend macht, die Umsatzsteuer für die Jahre 2010, 2012 und 2013 sei rechtswidrig zu hoch festgesetzt worden, wodurch er in seinen Rechten verletzt werde. Anhaltspunkte dafür, dass die von dem Kläger angestrebte Minderung der Umsatzsteuer der Jahre 2010, 2012 und 2013 offensichtlich und von vornherein ausscheidet, liegen nicht vor, unabhängig davon, ob der Kläger in den betreffenden Streitjahren als Unternehmer gehandelt hat oder als Nichtunternehmer in einer Rechnung Steuer unberechtigt gesondert ausgewiesen hat. Die Klagebefugnis des Klägers entfällt jedenfalls nicht deshalb, weil ‑‑wie das FG unzutreffend meint‑‑ dieser in seinen Rechnungen selbst Umsatzsteuer ausgewiesen habe und daher die Steuer nach § 14c Abs. 2 Satz 1 UStG schulde. Die Möglichkeit, in seinen Rechten verletzt zu sein, besteht auch bei einer Umsatzsteuerfestsetzung, die auf Grundlage des § 14c Abs. 2 Satz 1 UStG ergangen ist. Die Frage, ob die Umsatzsteuer nach § 14c Abs. 2 UStG geschuldet wird, ist eine Frage der Begründetheit.

  7. bb) Das FG hat die Klage hinsichtlich der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Jahre 2010, 2012 und 2013 nicht hilfsweise auch als unbegründet abgewiesen. Es hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zwar umfänglich materiell-rechtliche Ausführungen zur Umsatzsteuer getätigt. Diese detaillierte Begründung in der Sache erfolgte jedoch nicht für den Fall der Zulässigkeit der Klage, soweit sie die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Jahre 2010, 2012 und 2013 betraf, so dass das FG insoweit nicht zur Sache entschieden hat (vgl. zur hilfsweisen Begründung eines Prozessurteils in der Sache z.B. BFH-Beschluss vom 25.08.2022 - X B 96/21, BFH/NV 2022, 1187, Rz 34). Die Klage wurde insoweit allein verfahrensfehlerhaft durch Prozessurteil abgewiesen. Zur Sache hat das FG nur "im Übrigen", mithin hinsichtlich der weiteren Streitgegenstände des finanzgerichtlichen Verfahrens, entschieden und diesbezüglich die Klage als unbegründet abgewiesen.

  8. d) Der Senat kann im Rahmen des Verfahrens wegen Nichtzulassung der Revision dem erfolgreich gerügten Verfahrensfehler des FG, dass es hinsichtlich der Umsatzsteuer für die Jahre 2010, 2012 und 2013 zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden hat, nicht dadurch begegnen, dass er die Beschwerde des Klägers mit der Maßgabe zurückweist, dass die Klage als unbegründet abgewiesen wird.

  9. aa) Die Ausführungen des FG zur Begründetheit gelten vielmehr insoweit als nicht geschrieben, da sie bei dem vom FG hinsichtlich der Umsatzsteuer für die Jahre 2010, 2012 und 2013 beabsichtigten Erlass eines Prozessurteils ebenfalls verfahrensfehlerhaft sind. Es ist rechtsfehlerhaft, wenn das FG in eine Sachprüfung eintritt und Ausführungen zur Begründetheit macht, obwohl es insoweit die Zulässigkeit einer Klage verneint hat. Die materielle Sachprüfungsbefugnis eines Gerichts ist grundsätzlich erst eröffnet, wenn die Zulässigkeit der Klage festgestellt ist (vgl. z.B. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ‑‑BVerwG‑‑ vom 13.07.2023 - 2 C 7.22, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‑‑HFR‑‑ 2024, 476, Rz 26).

  10. bb) Dies beruht auf der Unterschiedlichkeit der Rechtskraftwirkung von Prozess- und Sachurteilen. Materielle Bindungswirkung kommt den "überschießenden" Sachausführungen eines Prozessurteils nicht zu; sie dürfen dem Betroffenen nicht entgegengehalten werden (vgl. BVerwG-Urteil vom 13.07.2023 - 2 C 7.22, HFR 2024, 476, Rz 27). Dies wird in der Rechtsprechung vielfach mit der Formulierung zum Ausdruck gebracht, dass die verfahrensfehlerhaft beigefügten Begründungserwägungen als "nicht geschrieben" gelten (vgl. dazu BVerwG-Urteil vom 13.07.2023 - 2 C 7.22, HFR 2024, 476, Rz 27, m.w.N.). Anders wäre es nur, wenn der Senat die Revision zulassen würde, da im Rahmen des Revisionsverfahrens ein Rückgriff auf diese Gründe nicht gesperrt ist (vgl. BVerwG-Urteil vom 13.07.2023 - 2 C 7.22, HFR 2024, 476, Rz 28 ff.).

  11. 2. Über den gerügten und vorliegenden Verfahrensmangel hinaus hat der Kläger keine weiteren Zulassungsgründe im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FGO dargetan. Der Senat vermag dem Kläger nicht darin zu folgen, dass sich der von ihm gerügte Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, der nur das Verfahren wegen Umsatzsteuer für die Streitjahre 2010, 2012 und 2013 betrifft, sich auch auf die übrigen Streitgegenstände des Verfahrens erstreckt. Soweit der Kläger mit seiner Beschwerde das FG-Urteil "insgesamt" aufgehoben haben möchte, ist die Beschwerde deshalb im Übrigen unbegründet.

  12. 3. Der Senat hält es für angezeigt, in Bezug auf die Umsatzsteuer für die Jahre 2010, 2012 und 2013 nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben und den Rechtsstreit hinsichtlich dieser Streitgegenstände zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

  13. 4. Im Übrigen bleibt das FG-Urteil bestehen, da die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers insoweit unbegründet ist.

  14. 5. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung hat der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.

  15. 6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Das FG hat mit Rücksicht auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung auch über die Kosten des durch Beschluss rechtskräftig abgeschlossenen Teils des Verfahrens zu entscheiden (vgl. BFH-Beschluss vom 25.08.2022 - X B 96/21, BFH/NV 2022, 1187, Rz 43, m.w.N.).

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