ECLI:DE:BFH:2025:B.130525.VIIIB31.24.0
BFH VIII. Senat
FGO § 65 Abs 1 S 1, FGO § 65 Abs 2 S 1, FGO § 65 Abs 2 S 2, FGO § 116 Abs 6
vorgehend FG München, 08. March 2024, Az: 8 K 1264/23
Leitsätze
1. NV: Bestehen erhebliche Zweifel, ob die Klägerin unter der in der Klageschrift angegebenen Anschrift noch wohnt und hat das Finanzgericht (FG) die Klägerin deshalb zu Recht wiederholt dazu aufgefordert, ihre aktuelle (gegebenenfalls auch ausländische) Wohnanschrift mitzuteilen, darf das Gericht, solange die Klägerin die Frage nicht beantwortet hat, im Urteil nicht offenlassen, ob die Klage zulässig ist. Unter diesen Umständen kann der Bundesfinanzhof im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
2. NV: Zur Bezeichnung des Klägers gehört nach ständiger Rechtsprechung die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift. Verzieht der Kläger während des Verfahrens in das Ausland, hat er dem FG unaufgefordert seine ausländische Wohnanschrift mitzuteilen. Die Bestellung eines inländischen Empfangsbevollmächtigten befreit ihn nicht von dieser Obliegenheit.
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 08.03.2024 - 8 K 1264/23 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht München zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein von Amts wegen zu beachtender Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) vor, der gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung an das Finanzgericht (FG) führt.
1. Erlässt das FG ein Sachurteil, obwohl es die Klage als unzulässig hätte abweisen müssen, beruht das Urteil auf einem Verfahrensmangel (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 14.06.2017 - X B 118/16, BFH/NV 2017, 1437, Rz 42). Entsprechendes gilt, wenn das FG (zu Unrecht) offengelassen hat, ob alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen und trotzdem in der Sache entschieden hat. Darin kann ein Verfahrensmangel liegen, denn die Sachentscheidungsvoraussetzungen müssen (alle) vorliegen, bevor das FG in der Sache entscheiden darf (BFH-Beschluss vom 07.08.2001 - I B 16/01, BFHE 196, 12, BStBl II 2002, 13, unter II.2.).
2. Ob alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen, prüft der BFH in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen ohne Bindung an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (BFH-Urteil vom 10.02.2010 - XI R 3/09, BFH/NV 2010, 1450, Rz 20). Das gilt nicht nur im Revisionsverfahren, sondern auch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde. Besteht nach Aktenlage die mehr als nur theoretische Möglichkeit, dass das FG zu Unrecht zur Sache entschieden hat, weil nicht alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorlagen, kommt eine Zulassung der Revision nicht in Betracht. Denn auch das Revisionsverfahren müsste in diesem Fall zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur vorrangigen Klärung der Sachentscheidungsvoraussetzungen durch das FG führen. Unter diesen Umständen kann der BFH auch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde wegen eines nicht gerügten Verfahrensmangels von der Möglichkeit des § 116 Abs. 6 FGO Gebrauch machen und die Sache zur erneuten Entscheidung an das FG zurückverweisen. So liegt der Streitfall.
3. Verfahrensfehlerhaft hat das FG offengelassen, ob die Klage wirksam erhoben worden ist.
a) Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO muss die Klage unter anderem den Kläger bezeichnen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH gehört dazu bei natürlichen Personen grundsätzlich die Angabe der tatsächlichen Wohnanschrift, an die das Gericht förmliche Zustellungen bewirken kann (sogenannte ladungsfähige Anschrift: BFH-Beschlüsse vom 29.01.2018 - X B 122/17, BFH/NV 2018, 630, Rz 23; vom 21.10.2020 - VII B 119/19, BFH/NV 2021, 321, Rz 40; vom 10.03.2022 - VII B 174/20, BFH/NV 2022, 603, Rz 14), denn die Zustellungsvorschriften setzen das Vorhandensein einer Wohnung voraus (vgl. BFH-Beschluss vom 21.10.2020 - VII B 119/19, BFH/NV 2021, 321, Rz 40). Das Vorhalten eines Briefkastens genügt nicht (BFH-Beschluss vom 29.01.2018 - X B 122/17, BFH/NV 2018, 630). Die Ersatzzustellung durch Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten ist nur wirksam, wenn der Zustellungsadressat unter der Zustellanschrift wohnt. Dafür erbringt die Zustellungsurkunde keinen Nachweis (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17.02.1992 - AnwZ (B) 53/91, Neue Juristische Wochenschrift 1992, 1963). Die sich aus § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO ergebende Obliegenheit betrifft nicht nur den Zeitpunkt der Klageerhebung, sondern der Kläger muss während des gesamten Verfahrens dafür sorgen, dass er durch die Angabe seines tatsächlichen Wohnorts und Lebensmittelpunkts für das Gericht erreichbar bleibt (BFH-Beschlüsse vom 10.03.2022 - VII B 174/20, BFH/NV 2022, 603, Rz 15; vom 30.06.2015 - X B 28/15, BFH/NV 2015, 1423, Rz 14; vom 20.09.2022 - VIII B 85/21, BFH/NV 2022, 1298). Auch ein Wohnsitz im Ausland ist anzugeben (vgl. BFH-Beschluss vom 10.12.2019 - VIII B 3/19, BFH/NV 2020, 373). Unerheblich ist, ob unter der ausländischen Wohnanschrift förmliche Zustellungen vorgenommen werden könnten.
b) Die Obliegenheit zur Angabe der tatsächlichen Wohnanschrift entfällt nur, wenn ihre Erfüllung ausnahmsweise unmöglich oder unzumutbar ist. Sie ist unmöglich, wenn der Kläger über eine solche Anschrift nicht verfügt; dies muss glaubhaft gemacht werden (BFH-Beschluss vom 29.01.2018 - X B 122/17, BFH/NV 2018, 630). Unzumutbar ist die Angabe etwa im Fall drohender Verhaftung oder Enttarnung; auch die dafür maßgeblichen Umstände müssen jedoch glaubhaft gemacht werden. Unerheblich ist hingegen, ob der Kläger durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist (BFH-Beschluss vom 30.06.2015 - X B 28/15, BFH/NV 2015, 1423, Rz 11). Dies entbindet den Kläger nicht von der Obliegenheit zur Mitteilung seiner tatsächlichen Wohnanschrift. Entsprechendes muss gelten, wenn der angeblich im Ausland wohnende Kläger einen inländischen Zustellungsbevollmächtigten bestellt hat. Die Ermöglichung von Zustellungen ist nicht der alleinige Zweck der Obliegenheit, die tatsächliche Wohnanschrift mitzuteilen (vgl. zu den weiteren Zwecken der Obliegenheit: BFH-Beschluss vom 18.08.2011 - V B 44/10, BFH/NV 2011, 2084, Rz 8).
c) Mit Aufklärungsverfügung vom 05.02.2024 hat das FG der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) aufgegeben mitzuteilen, ob die in der Klage und in der Klagebegründung angegebene Adresse ihre aktuelle Wohnanschrift ist. Eine vorangegangene Melderegisterabfrage hatte ergeben, dass die Klägerin unbekannt ins Ausland verzogen sei. Eine Online-Abfrage im bundesweiten amtlichen Anwaltsverzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer hatte unter dem Namen der Klägerin nur eine Adresse in A ergeben. Auf die Verfügung des FG hat die Klägerin dem FG mitgeteilt, sie habe seit … keinen Aufenthaltsort und keinen Wohnsitz mehr in der Bundesrepublik Deutschland. Sie halte sich im Ausland auf und sei von der Kanzleipflicht befreit. Zustellungen könnten an ihr besonderes elektronisches Anwaltspostfach und an einen von ihr bestellten Zustellungsbevollmächtigten bewirkt werden (Schriftsatz vom 29.02.2024, Bl. 126 der eAkte des FG). Bereits am 20.02.2024 hatte das FG der Klägerin die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 08.03.2024 per Zustellungsurkunde unter der Anschrift, unter der die Klägerin nach eigenen Angaben seit … nicht mehr wohnte, "zugestellt".
Mit weiterer Aufklärungsanordnung vom 01.03.2024 verlangte das FG von der Klägerin bis zur mündlichen Verhandlung die Mitteilung ihrer ausländischen Wohnadresse oder die Angabe von Hinderungsgründen. Die Klägerin teilte daraufhin mit, sie sei dazu nicht verpflichtet, denn sie habe für das Verfahren einen inländischen Zustellungsbevollmächtigten bestellt.
Am 08.03.2024 hat das FG in Abwesenheit der Klägerin in der Sache mündlich verhandelt und die Klage als unbegründet abgewiesen. Im Rubrum des FG-Urteils ist eine Anschrift der Klägerin nicht angegeben. In den Entscheidungsgründen hat das FG unter anderem ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Klage zulässig sei, sie sei jedenfalls unbegründet.
4. Bestehen wie im Streitfall erhebliche Zweifel, ob die Klägerin noch unter der in der Klage angegebenen Anschrift wohnt und hat das FG die Klägerin zu Recht wiederholt dazu aufgefordert, ihre aktuelle (gegebenenfalls auch ausländische) Wohnanschrift mitzuteilen, darf das Gericht, solange die Klägerin die Frage nicht beantwortet hat, im Urteil nicht offenlassen, ob die Klage zulässig ist. Wird die Angabe der ladungsfähigen Anschrift bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung oder dem Ablauf einer Ausschlussfrist nicht nachgeholt, muss die Klage grundsätzlich als unzulässig abgewiesen werden (BFH-Urteil vom 17.06.2010 - III R 53/07, BFH/NV 2011, 264). Entscheidet das FG bei dieser Sachlage trotzdem zur Sache, liegt ein Verfahrensmangel vor, auf dem das Urteil beruht.
Der Senat sieht davon ab, der Klägerin zur Mitteilung ihrer aktuellen Wohnanschrift eine Ausschlussfrist gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO zu setzen. Dies wird das FG im zweiten Rechtsgang gegebenenfalls nachzuholen haben. Weigert sich die Klägerin weiterhin, ihre aktuelle Wohnanschrift mitzuteilen und macht sie nicht glaubhaft, dass ihr die Mitteilung unmöglich oder unzumutbar ist, muss das FG die Klage als unzulässig abweisen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.