ECLI:DE:BFH:2025:U.080425.VIIR24.23.0
BFH VII. Senat
EGV 91/2009 Art 1 Abs 4, EUV 2016/278 Art 2, EWGV 2913/92 Art 201 Abs 1, EWGV 2913/92 Art 201 Abs 2, EWGV 2913/92 Art 220 Abs 1, EWGV 2913/92 Art 221 Abs 3, EWGV 2913/92 Art 221 Abs 4, AO § 169 Abs 2 S 2, AO § 169 Abs 2 S 3, ZK Art 201 Abs 1, ZK Art 201 Abs 2, ZK Art 220 Abs 1, ZK Art 221 Abs 3, ZK Art 221 Abs 4, AEUV Art 267 Abs 3
vorgehend FG Hamburg, 06. April 2022, Az: 4 K 146/18
Leitsätze
NV: Die Aufhebung einer Antidumpingmaßnahme durch die Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 entfaltet keine Rückwirkung. Antidumpingzölle, die während der Geltung der später aufgehobenen Maßnahme entstanden sind, können auch nach deren Aufhebung nacherhoben werden (Anschluss an Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855).
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 06.04.2022 - 4 K 146/18 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Hamburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Der Beklagte und Revisionskläger (Hauptzollamt ‑‑HZA‑‑) wendet sich gegen die Entscheidung des Finanzgerichts (FG), mit der die Nacherhebung von Antidumpingzoll für die Einfuhr von Schrauben aufgehoben wurde.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine sich in Liquidation befindende GmbH & Co. KG, überführte mit zwei Zollanmeldungen vom 18.08.2010 insgesamt vier Partien Schrauben der Codenummern 7318 15 69 99 0 bzw. 7318 15 89 99 0 aus Malaysia in den zollrechtlich freien Verkehr. Dabei legte sie ein durch das Ministry of International Trade and Industry Malaysia (MITI) ausgestelltes Ursprungszeugnis vor, das als Hersteller ein in Malaysia ansässiges Unternehmen auswies. Das HZA setzte für die Einfuhren Einfuhrumsatzsteuer fest, erhob jedoch zunächst keinen Antidumpingzoll, da die Ware als Ursprungsware Malaysias behandelt wurde.
Im Jahr 2012 informierte das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) die Zollbehörden der Mitgliedstaaten über den Verdacht, dass aus der malaysischen Free Commercial Zone Port Klang eingeführte Verbindungselemente tatsächlich Ursprungserzeugnisse der Volksrepublik China (China) seien. Die Waren seien lediglich in Malaysia umgeladen und mit falschen Ursprungsdokumenten versehen worden. Im Zuge weiterer Ermittlungen gelangte das HZA zu der Einschätzung, dass dies auch die vorliegend fraglichen Einfuhren betreffe.
Das Zollfahndungsamt X (ZFA) leitete im Jahr 2012 auf Grundlage dieser Erkenntnisse ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen unbekannte Verantwortliche der Klägerin wegen des Verdachts der gewerbsmäßigen Hinterziehung von Einfuhrabgaben ein. Im Rahmen der Ermittlungen wurden im Jahr 2013 Geschäftsräume der Klägerin und ihrer Zollvertreterin durchsucht. Dabei wurden Beweismittel, insbesondere Geschäftsunterlagen und elektronische Daten, sichergestellt. … 2013 (Handelsregistereintragung xx.xx.2013) wurde die Klägerin aufgelöst und befindet sich seitdem in Liquidation.
Mit Bescheid vom 08.06.2016 setzte das HZA ‑‑gestützt auf Art. 220 Abs. 1 i.V.m. Art. 221 Abs. 4 des Zollkodex (ZK)‑‑ gegenüber dem Liquidator der Klägerin wegen der vorliegend streitgegenständlichen Einfuhren nachträglich Antidumpingzoll in Höhe von … € fest. Zur Begründung führte es aus, dass nach den Feststellungen des OLAF und den Ermittlungen des ZFA die von der Klägerin angemeldeten Verbindungselemente tatsächlich in China hergestellt worden seien. Die Waren seien nach Malaysia verbracht und mit falschen Ursprungsdokumenten versehen worden, um den Antidumpingzoll zu umgehen.
Den gegen diesen Bescheid eingelegten Einspruch wies das HZA mit Entscheidung vom 06.11.2018 als unbegründet zurück.
Mit ihrer Klage machte die Klägerin unter anderem geltend, dass die Antidumpingmaßnahme, auf die die Nacherhebung gestützt worden sei, nämlich die Verordnung (EG) Nr. 91/2009 des Rates vom 26.01.2009 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter Verbindungselemente aus Eisen oder Stahl mit Ursprung in der Volksrepublik China (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2009, Nr. L 29, 1) ‑‑Verordnung (EG) Nr. 91/2009‑‑, durch die Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 der Kommission vom 26.02.2016 zur Aufhebung des endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter Verbindungselemente aus Eisen oder Stahl mit Ursprung in der Volksrepublik China, ausgeweitet auf aus Malaysia versandte Einfuhren bestimmter Verbindungselemente aus Eisen oder Stahl, ob als Ursprungserzeugnisse Malaysias angemeldet oder nicht (ABlEU 2016, Nr. L 52, 24) ‑‑Durchführungsverordnung (EU) 2016/278‑‑ aufgehoben worden sei. Diese Aufhebung erfasse desgleichen die Vergangenheit, sodass sich die Nacherhebung als rechtswidrig erweise. Auch die Annahme, dass der bestätigte Warenursprung in Malaysia nicht zutreffe, sondern in China zu verorten sei, bestritt sie. Insofern war sie zudem der Meinung, dass das HZA seine Nachweispflicht nicht durch die bloße Übernahme der Schlussfolgerungen eines OLAF-Missionsberichts ersetzen könne. Zusätzlich machte sie Festsetzungsverjährung (Ablauf der Festsetzungsfrist gemäß Art. 221 ZK) geltend. Insbesondere sei diese im Streitfall nicht gemäß Art. 221 Abs. 4 ZK i.V.m. § 169 der Abgabenordnung (AO) wegen einer Straftat verlängert. Eine vorsätzliche Handlung könne ihr nicht zur Last gelegt werden.
Das FG gab der Klage statt. Es führte aus, dass Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 so zu verstehen sei, dass ab dem Zeitpunkt der Aufhebung keine Rechtsgrundlage für die Erhebung von Antidumpingzöllen mehr bestehe, unabhängig davon, ob die Einfuhren vor oder nach dem Wirksamkeitsdatum 28.02.2016 erfolgt seien. Die Nacherhebung sei daher bereits aus diesem Grunde unzulässig. Im Streitfall könne mithin dahingestellt bleiben, ob die aus Malaysia versandten streitgegenständlichen Verbindungselemente ‑‑wie es das HZA annehme‑‑ ihren für eine Antidumpingzollfestsetzung erforderlichen Warenursprung in China hätten. Auch zur Frage der eingewandten Festsetzungsverjährung verhielt sich das Urteil dementsprechend nicht.
Mit seiner Revision wendet sich das HZA gegen das FG-Urteil. Es macht geltend, dass die Aufhebung der Antidumpingmaßnahme durch die Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 keine Rückwirkung entfalte und die Nacherhebung für vor dem 28.02.2016 entstandene Zollschulden weiterhin zulässig sei.
Das FG habe Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 fehlerhaft ausgelegt. Diese Vorschrift stelle klar, dass die Aufhebung der Antidumpingzölle erst ab dem Tag des Inkrafttretens gelte. Eine rückwirkende Ungültigkeit der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 sei weder im Wortlaut der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 vorgesehen noch entspreche dies deren Sinn und Zweck. Vielmehr folge die Europäische Kommission mit dieser Regelung der generellen unionsrechtlichen Vorgabe, dass Maßnahmen zur Umsetzung von Entscheidungen der Welthandelsorganisation (World Trade Organization ‑‑WTO‑‑) grundsätzlich nur für die Zukunft gälten (Art. 3 der Verordnung (EU) 2015/476 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.03.2015 über die möglichen Maßnahmen der Union aufgrund eines vom WTO-Streitbeilegungsgremium angenommenen Berichts über Antidumping- oder Antisubventionsmaßnahmen, ABlEU 2015, Nr. L 83, 6).
Das FG verkenne zudem, dass Art. 2 Halbsatz 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 nur klarstelle, dass bereits erhobene Zölle nicht zu erstatten seien, jedoch keine Aussage über die Zulässigkeit der Nacherhebung treffe. Die mit Annahme der Zollanmeldungen vor dem 28.02.2016 entstandenen Antidumpingzölle seien nicht erloschen und könnten nach den allgemeinen Vorschriften innerhalb der Verjährungsfrist nachträglich festgesetzt werden.
Ferner widerspreche das FG-Urteil der Rechtsprechung des Gerichts der Europäischen Union (Urteil Eurobolt u.a./Kommission vom 18.05.2022 - T-479/20, EU:T:2022:304), bestätigt durch das Urteil Eurobolt u.a./Kommission und Stafa Group des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 11.01.2024 - C-517/22 P, EU:C:2024:9, wonach die Gültigkeit der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 durch die Aufhebung nicht rückwirkend entfallen sei. Auch die Schlussanträge des Generalanwalts Emiliou in der Rechtssache Eurobolt u.a./Kommission und Stafa Group vom 07.09.2023 - C-517/22 P, EU:C:2023:649 vor dem EuGH bestätigten, dass alle Sachverhalte, die vor der Aufhebung von der ursprünglichen Verordnung erfasst worden seien, von der Aufhebung unberührt blieben.
Insbesondere beruft sich das HZA aber auf das während des vorliegenden Revisionsverfahrens ergangene EuGH-Urteil Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855, das seiner Auffassung nach einen identischen Sachverhalt betreffe. Der EuGH habe in dieser Entscheidung bestätigt, dass Antidumpingzölle auch nach Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 erhoben werden dürften, sofern sie während deren Gültigkeitszeitraums entstanden seien (EuGH-Urteil Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855, Rz 42). Die Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 entfalte keine rückwirkende Wirkung (EuGH-Urteil Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855, Rz 38) und berühre weder die Entstehung noch die Nacherhebung von Antidumpingzöllen auf zuvor erfolgte Einfuhren (EuGH-Urteil Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855, Rz 40).
Das HZA beantragt,
das angefochtene FG-Urteil vom 06.04.2022 - 4 K 146/18 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie verteidigt das FG-Urteil und regt hilfsweise ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH an, um eine abschließende Klärung der maßgeblichen unionsrechtlichen Fragen zu ermöglichen.
Zur Begründung trägt sie vor, dass das EuGH-Urteil Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855 keine hinreichende Auseinandersetzung mit wesentlichen Argumenten zur Auslegung von Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 enthalte. Zwar sei der dem portugiesischen Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt in zeitlicher Hinsicht mit dem hiesigen Verfahren vergleichbar, jedoch unterschieden sich die Argumentationsbreite und -tiefe der dortigen Rechtsausführungen erheblich von denjenigen im hiesigen Verfahren. Insbesondere sei nicht ausreichend berücksichtigt worden, dass die Aufhebung der Antidumpingzölle über eine bloße Ex-nunc-Wirkung hinausgehe und die Verordnung (EG) Nr. 91/2009 rückwirkend unanwendbar mache. Das FG habe sich mit dieser Fragestellung intensiv befasst und sei zu dem Ergebnis gelangt, dass eine nachträgliche Erhebung von Antidumpingzöllen nach Aufhebung der Maßnahme ausgeschlossen sei.
Die Klägerin verweist zudem darauf, dass sich der EuGH im Verfahren Autoridade Tributária e Aduaneira C-412/22 mangels hinreichenden Vorbringens nicht mit der Völkerrechtsfreundlichkeit des deutschen Rechts auseinandergesetzt habe. Diese führe dazu, dass eine Maßnahme, die nachträglich als völkerrechtswidrig erkannt werde, von Anfang an als unwirksam zu betrachten sei. Zudem ergebe sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit, dass nachträgliche Festsetzungen nur dann Bestand haben könnten, wenn sie bereits bestandskräftig festgesetzt worden seien, was vorliegend nicht der Fall sei.
Die Klägerin hält es daher für erforderlich, die Frage der Anwendung von Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 gegebenenfalls erneut dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Sie verweist darauf, dass EuGH-Urteile im Vorabentscheidungsverfahren grundsätzlich nur eine relative Bindungswirkung entfalteten und eine erneute Vorlage durch den Bundesfinanzhof zulässig sei, wenn neue rechtliche Gesichtspunkte aufgeworfen würden. Dies sei hier der Fall, da insbesondere die Folgen der Unvereinbarkeit der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 mit WTO-Recht bislang nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt worden seien. Die Annahme eines sogenannten acte éclairé wäre daher unzutreffend. Der EuGH habe in seiner Rechtsprechung zur Vorlagepflicht nationaler Gerichte ausdrücklich betont, dass auch bei einer bereits entschiedenen Rechtsfrage eine erneute Vorlage möglich sei, wenn zusätzliche Argumente vorgebracht würden, die eine weitergehende Klärung erforderten.
Entscheidungsgründe
II.
1. Der Senat entscheidet nach § 121 Satz 1 i.V.m. § 90a Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Gerichtsbescheid.
2. Die Revision ist begründet mit der Maßgabe, dass die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Die Vorentscheidung verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FG hat in revisionsrechtlich zu beanstandender Weise entschieden, dass die am 28.02.2016 in Kraft getretene Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 ab diesem Zeitpunkt der Nacherhebung von Antidumpingzöllen entgegensteht, die für vor diesem Zeitpunkt unter der Geltung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 erfolgte Einfuhren entstanden sind. Allerdings vermag der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht abschließend in der Sache zu entscheiden, ob das HZA mit dem streitgegenständlichen Einfuhrabgabenbescheid vom 08.06.2016 und der ihn bestätigenden Einspruchsentscheidung vom 06.11.2018 gemäß Art. 220 Abs. 1 i.V.m. Art. 221 Abs. 4 ZK zu Recht Antidumpingzoll nacherhoben hat.
a) Die vom FG vertretene Rechtsauffassung, wonach die mit der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 erfolgte Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 der nachträglichen Erhebung von Antidumpingzöllen auf Einfuhren, die vor dem 28.02.2016 unter der Geltung der aufgehobenen Verordnung erfolgten, entgegenstehe, ist mit der unionsrechtlichen Rechtslage ‑‑wie nunmehr höchstrichterlich geklärt ist‑‑ nicht vereinbar.
aa) Der EuGH hat in seinem Urteil Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855 ausdrücklich klargestellt, dass die Aufhebung der Antidumpingzölle durch Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 keine Rückwirkung entfaltet und daher die Nacherhebung von Antidumpingzöllen auf bereits während der Geltung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 erfolgte Einfuhren nicht ausschließt. Der EuGH hat hervorgehoben, dass die Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 weder die Entstehung einer Zollschuld auf unter ihrer Geltung erfolgte Einfuhren noch die Möglichkeit der nachträglichen Erhebung berührt, selbst wenn die Aufhebungsverordnung zum Zeitpunkt der Nacherhebung bereits in Kraft war (EuGH-Urteil Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855, Rz 40). Eine gegenteilige Auslegung würde dem in Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 ausdrücklich normierten Grundsatz widersprechen, dass die Aufhebung keine Rückwirkung entfaltet und lediglich die Zukunft betrifft.
bb) Diese unionsrechtliche Bewertung wird durch Erwägungsgrund 14 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 bestätigt, wonach die Aufhebung der Antidumpingmaßnahmen ab dem Tag ihres Inkrafttretens gelten und folglich keine Erstattungen für zuvor erhobene Zölle auslösen soll. Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 greift diese Wertung verbindlich auf und begrenzt die Wirkung der Aufhebung auf zukünftige Einfuhren.
cc) Auch aus systematischen und teleologischen Erwägungen ergibt sich, dass eine nachträgliche Erhebung von Antidumpingzöllen für unter der Geltung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 erfolgte Einfuhren weiterhin möglich sein muss. Andernfalls hinge die Belastung mit Antidumpingzoll vom bloßen Zufall ab, ob die Zollbehörden bis zum Außerkrafttreten der Verordnung bereits eine Prüfung und Festsetzung vorgenommen haben. Gerade im Fall der Umgehung von Antidumpingmaßnahmen ‑‑etwa durch Vorlage unzutreffender Ursprungsnachweise und Umladung der Ware in Drittländern‑‑ würde dies zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Begünstigung führen. Eine solche Konsequenz stünde nicht nur im Widerspruch zur Intention der Verordnung, bestimmte Einfuhren in einem klar definierten Zeitraum mit einem Antidumpingzoll zu belegen, sondern auch zur Rechtslage, wonach die Entstehung der Zollschuld an die Annahme der Zollanmeldung anknüpft (Art. 201 Abs. 2 ZK). Schließlich ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der Anmelder verpflichtet ist, bereits im Zeitpunkt der Anmeldung vollständige und zutreffende Angaben zu machen sowie die maßgeblichen Unterlagen vorzulegen (Art. 62 ZK i.V.m. Art. 199 Abs. 1 der Zollkodex-Durchführungsverordnung). Würde die nachträgliche Erhebung bei Umgehungshandlungen ausgeschlossen, liefe diese Verpflichtung leer und die Effektivität der unionsrechtlichen Antidumpingregelungen würde erheblich geschwächt.
dd) Das FG hat in seinem Urteil demgegenüber zwar anerkannt, dass Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 die Erstattung bereits erhobener Antidumpingzölle ausschließt, jedoch aus dieser Regelung fälschlicherweise abgeleitet, dass eine nachträgliche Erhebung für bereits unter der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 erfolgte Einfuhren nicht mehr zulässig sei. Diese Annahme steht im Widerspruch zur gefestigten EuGH-Rechtsprechung, wonach die Aufhebung eines Unionsrechtsakts durch den Unionsgesetzgeber nicht einer Feststellung der Rechtswidrigkeit mit Ex-tunc-Wirkung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH-Urteil Eurobolt u.a./Kommission und Stafa Group vom 11.01.2024 - C-517/22 P, EU:C:2024:9, Rz 88 f., m.w.N.).
ee) Die Argumentation des FG, die Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 führe dazu, dass die rechtliche Grundlage für die Nacherhebung entfallen sei, lässt außer Acht, dass die Zollschuld nach Art. 201 Abs. 1 und 2 ZK bereits mit der Annahme der jeweiligen Zollanmeldung entstanden ist. Der EuGH hat dementsprechend auch in seinem Urteil Autoridade Tributária e Aduaneira vom 04.10.2024 - C-412/22, EU:C:2024:855 darauf hingewiesen, dass die dort streitigen Antidumpingzölle im Zeitpunkt der Einfuhr nach den damals geltenden Vorschriften entstanden sind und daher einer späteren Erhebung zugänglich bleiben.
ff) Auch das Vorbringen der Klägerin, wonach die Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 mit deren Unvereinbarkeit mit WTO-Recht begründet worden sei und daher einer Ex-tunc-Nichtigkeitswirkung gleichkomme, wurde vom EuGH damit eindeutig zurückgewiesen. Der EuGH hat betont, dass eine solche Aufhebung nur für die Zukunft Wirkung entfaltet und nicht mit einer rückwirkenden Feststellung der Ungültigkeit der ursprünglichen Antidumpingmaßnahmen gleichgesetzt werden kann. Eine Nacherhebung auf Grundlage der während der Geltung der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 entstandenen Zollschuld bleibt daher zulässig.
gg) Soweit die Klägerin rügt, der EuGH habe sich im Verfahren Autoridade Tributária e Aduaneira C-412/22 nicht hinreichend mit der Völkerrechtsfreundlichkeit des deutschen Rechts auseinandergesetzt, geht dieser Einwand fehl. Zwar besitzt der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit Verfassungsrang (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ‑‑BVerfG‑‑ vom 15.12.2015 - 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1, Rz 64), begründet jedoch keine Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung völkerrechtlicher Normen, sondern dient als Auslegungshilfe. Unionsrechtlich kommt es zudem nicht auf nationale Verfassungsstandards an. Der EuGH verneint im Interesse einer unionsweit einheitlichen Anwendung des Sekundärrechts dessen Kontrolle am Maßstab der Verfassungsrechte der Mitgliedstaaten (s. etwa EuGH-Urteil Facebook Ireland und Schrems vom 16.07.2020 - C-311/18, EU:C:2020:559, Rz 100; vgl. auch Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 25. Aufl., Rz 4.53, m.w.N.).
b) Im zweiten Rechtsgang wird das FG das Vorliegen der Voraussetzungen einer Nacherhebung im Sinne von Art. 220 ZK zu prüfen haben. Für das weitere Verfahren gibt der Senat folgende Hinweise:
aa) Die Nacherhebung des streitgegenständlichen Antidumpingzolls richtet sich angesichts der auf den 18.08.2010 datierenden Zollanmeldungen nach Art. 1 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 i.V.m. Art. 220 Abs. 1 ZK. Art. 220 ZK ist eine Vorschrift des materiellen Zollrechts, die auf vor dem Inkrafttreten des Zollkodex der Union am 01.05.2016 entstandene Sachverhalte weiterhin anwendbar bleibt (Senatsurteil vom 28.02.2023 - VII R 21/20, Rz 25).
bb) Gemäß Art. 220 Abs. 1 ZK ist der einer Zollschuld entsprechende Abgabenbetrag nachzuerheben, wenn er mit einem geringeren als dem gesetzlich geschuldeten Betrag buchmäßig erfasst worden ist. Die tatsächlichen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob diese Voraussetzungen vorliegen. Dies wird das FG im zweiten Rechtsgang zu prüfen haben.
(1) Das FG hat keine hinreichenden Feststellungen dazu getroffen, ob die streitgegenständlichen Waren tatsächlich ihren Ursprung in China hatten und damit dem endgültigen Antidumpingzoll nach der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 für Verbindungselemente der Codenummern 7318 15 69 99 0 bzw. 7318 15 89 99 0 dieses Ursprungs unterlagen. Die Ursprungsfeststellung ist eine notwendige Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Nacherhebung. Zwar hat das HZA seine Entscheidung auf die Ergebnisse der Untersuchungen des OLAF sowie auf Ermittlungen der nationalen Zollbehörden gestützt, jedoch fehlt die tatrichterliche Würdigung dieser Beweismittel. Das FG wird daher im zweiten Rechtsgang unter Berücksichtigung der erhöhten Mitwirkungspflicht bei Auslandssachverhalten prüfen müssen, ob die von der Klägerin eingeführten Waren tatsächlich chinesischen Ursprungs waren.
(2) Ebenfalls sind Feststellungen zu den tatsächlichen Voraussetzungen einer möglichen Festsetzungsverjährung zu treffen. Nach Art. 201 Abs. 2 ZK entsteht die Zollschuld mit der Annahme der Zollanmeldung. Da die streitgegenständlichen Einfuhren im Jahr 2010 erfolgten, war die regelmäßige dreijährige Festsetzungsfrist des Art. 221 Abs. 3 Satz 1 ZK bei Erlass des Einfuhrabgabenbescheids im Jahr 2016 bereits abgelaufen. Allerdings kommt eine Verlängerung der Festsetzungsfrist gemäß Art. 221 Abs. 4 ZK i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 2 und 3 AO auf zehn Jahre in Betracht, sofern der streitgegenständliche Antidumpingzoll ‑‑wovon das HZA ausgeht‑‑ hinterzogen wurde. Im vorliegenden Fall könnte dies dadurch geschehen sein, dass für die eingeführten Waren falsche Ursprungszeugnisse vorgelegt wurden, um die Erhebung des Antidumpingzolls nach Maßgabe der zum Zeitpunkt der Einfuhren geltenden Antidumpingzollverordnung zu umgehen. Dabei wird insbesondere zu ermitteln sein, ob die Klägerin selbst an einer solchen Hinterziehung beteiligt war oder ob ihr zumindest ein Vermögensvorteil aus einer ‑‑gegebenenfalls festzustellenden‑‑ unzutreffenden Angabe des Ursprungslands zugeflossen ist. Nach Art. 221 Abs. 4 ZK i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 3 AO greift die verlängerte Festsetzungsfrist dann nicht, wenn der Abgabenschuldner nachweist, dass er aus einer von Dritten hinterzogenen Zollschuld keinen Vorteil gezogen hat.
3. Einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union bedarf es nicht. Die Rechtslage ist aus den oben genannten Gründen durch die aufgezeigte Rechtsprechung des EuGH in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt (acte éclairé, BVerfG-Beschluss vom 04.03.2021 - 2 BvR 1161/19, Rz 55).
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.