ECLI:DE:BFH:2025:B.101125.VB70.24.0
BFH V. Senat
ZPO § 227, FGO § 6, FGO § 76 Abs 1 S 1, FGO § 78, FGO § 86 Abs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 155
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht , 29. August 2024, Az: 4 K 70/24
Leitsätze
1. NV: Eine Besetzungsrüge mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung für eine Übertragung auf den Einzelrichter hätten nicht vorgelegen, kann nur Erfolg haben, wenn die Übertragung objektiv willkürlich ist oder sich als greifbar gesetzwidrig erweist.
2. NV: Es besteht kein Anspruch auf Einsichtnahme in Akten, die dem Gericht von der Finanzbehörde nicht zur Verfügung gestellt worden sind.
3. NV: Da die Sachaufklärungspflicht dazu dient, die Spruchreife herbeizuführen, hat das Finanzgericht (FG) nur das aufzuklären, was aus seiner materiell-rechtlichen Sicht entscheidungserheblich ist.
4. NV: Das FG verfügt über eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Frage, welche Akten es beizieht, weil es sie für entscheidungserheblich hält. Die Einschätzung des FG bindet den Bundesfinanzhof allerdings nicht, wenn die Rechtsauffassung des FG offenkundig fehlerhaft ist.
5. NV: Ein gerichtlicher Termin muss nur aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt werden.
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts vom 29.08.2024 - 4 K 70/24 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist unbegründet und daher durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen ‑‑soweit sie überhaupt im Sinne des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO hinreichend dargelegt wurden‑‑ nicht vor.
1. Der als Verfahrensfehler im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend gemachte Besetzungsmangel liegt nicht vor, da die Übertragung auf den Einzelrichter gemäß § 6 FGO nicht verfahrensfehlerhaft erfolgt ist.
a) Die Übertragung des Rechtsstreits durch den Senat auf eines seiner Mitglieder als Einzelrichter (§ 6 Abs. 1 FGO) ist nach § 6 Abs. 4 Satz 1 FGO unanfechtbar und unterliegt nach § 124 Abs. 2 FGO nicht der Beurteilung der Revision. Die Übertragung ist daher grundsätzlich auch nicht verfahrensfehlerhaft im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 15.04.2014 - V S 5/14 (PKH), BFH/NV 2014, 1381, Rz 15) und kann somit auch grundsätzlich nicht mit der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 12.10.2006 - VII B 326/05, BFH/NV 2007, 519; vom 01.09.2016 - VI B 26/16, BFH/NV 2017, 50, Rz 4). Die in § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 FGO für eine Übertragung des Rechtsstreits aufgeführten materiellen Voraussetzungen sind dabei nicht als tatbestandliche Voraussetzungen für das Übertragungsermessen des Finanzgerichts (FG), sondern lediglich als der Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht entzogene Leitlinien eines dem FG eingeräumten Ermessens zu verstehen (BFH-Beschluss vom 13.03.2024 - VIII B 129/22, BFH/NV 2024, 536, Rz 25).
Eine Besetzungsrüge mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO für eine Übertragung auf den Einzelrichter hätten nicht vorgelegen, kann nur Erfolg haben, wenn die Übertragung objektiv willkürlich ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 27.12.2004 - IV B 16/03, BFH/NV 2005, 1078, unter II.II.6.; vom 30.05.2022 - II B 55/21, BFH/NV 2022, 903, Rz 17) oder sich als greifbar gesetzwidrig erweist (BFH-Beschlüsse vom 16.12.1997 - IX R 22/95, BFH/NV 1998, 720, unter 2.a aa; vom 01.09.2016 - VI B 26/16, BFH/NV 2017, 50, Rz 5). In zeitlicher Hinsicht darf der zuständige Senat des FG die Voraussetzungen des § 6 FGO beurteilen (und deshalb über die Übertragung entscheiden), wenn er sich ein hinreichendes Urteil über den Fall bilden kann. Dafür genügt im Allgemeinen der Eingang von Klagebegründung, der Klageerwiderung und der den Streitfall betreffenden Akten (BFH-Beschluss vom 13.03.2024 - VIII B 129/22, BFH/NV 2024, 536, Rz 25).
b) Danach greift im Streitfall die auf die Einzelrichterbestellung gestützte Besetzungsrüge nicht durch.
aa) Das FG konnte die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO als gegeben ansehen. Anhaltspunkte für die Erkennbarkeit besonderer rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten (vgl. zu diesem Erfordernis BFH-Beschluss vom 28.01.2003 - VI B 75/02, BFH/NV 2003, 926, unter 1.b) mussten sich angesichts der überschaubaren tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Streitfalls, in dem es um den Antrag geht, die Nichtigkeit der Anordnung einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung festzustellen, dem FG nicht aufdrängen.
bb) Der Beschluss zur Übertragung auf den Einzelrichter vom 12.07.2024 ist auch nicht vorzeitig erfolgt. Das FG hat die Einzelrichterübertragung vorgenommen, als die Klageerwiderung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ‑‑FA‑‑) vorlag und die postalische Übersendung derjenigen Akten, die unmittelbar den Streitgegenstand betrafen, unter Angabe ihres überschaubaren Umfangs von ihm angekündigt worden war. Sowohl die Beteiligten als auch die grundsätzliche Problematik waren dem FG bereits aus einem vorangegangenen Verfahren (4 K 50/23) bekannt. Ob weitere Akten zum Zwecke der Sachaufklärung beizuziehen waren (oder gewesen wären, wie die Klägerin meint), ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung; denn es entspricht gerade dem Zweck der Einzelrichterbestellung, den Vollsenat von dieser Prüfung zu entlasten (vgl. BFH-Beschluss vom 30.05.2022 - II B 55/21, BFH/NV 2022, 903, Rz 21).
2. Die Rüge, dass das FG zu Unrecht weitere Akten nicht beigezogen und ihr, der Klägerin, darin keine Akteneinsicht gewährt habe, greift nicht durch.
a) Es besteht kein Anspruch auf Einsichtnahme in Akten, die dem Gericht von der Finanzbehörde nicht zur Verfügung gestellt worden sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 12.12.2012 - XI B 70/11, BFH/NV 2013, 705, Rz 31, und vom 30.05.2022 - II B 55/21, BFH/NV 2022, 903, Rz 10). Ein Verstoß gegen § 78 Abs. 1 FGO liegt im Übrigen ‑‑entgegen dem Vorbringen der Klägerin zur Nichtgewährung von Akteneinsicht‑‑ auch deshalb nicht vor, weil das FG die Klägerin über den Eingang der vom FA übersendeten Akten informiert und mit demselben Schreiben sogar ‑‑überobligatorisch‑‑ vollständige Kopien der vorgelegten Akten übermittelt hatte.
b) Soweit der Vortrag als Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 FGO) verstanden werden kann, hat das FG auf Seite 6 seines Urteils begründet, warum eine Hinzuziehung weiterer Akten aus seiner Sicht nicht erforderlich war. Da die Sachaufklärungspflicht dazu dient, die Spruchreife herbeizuführen, hat das FG nur das aufzuklären, was aus seiner materiell-rechtlichen Sicht entscheidungserheblich ist (vgl. BFH-Beschluss vom 04.03.2020 - XI B 30/19, BFH/NV 2020, 611, Rz 11, m.w.N.). Dies hat das FG getan. Zu einer Aktenbeiziehung "ins Blaue hinein" war das FG nicht verpflichtet (vgl. dazu auch BFH-Beschluss vom 12.02.2019 - VIII B 53/18, BFH/NV 2019, 568, Rz 12 und 13, m.w.N.), was vorliegend insbesondere auf das Vorbringen der Klägerin zutrifft, das FA habe die Prüfungsanordnung zu anderen Ausforschungszwecken als gegen die guten Sitten verstoßend und missbräuchlich einsetzen wollen.
c) Soweit die Ausführungen außerdem als Rüge der Verletzung der Grundordnung des Verfahrens verstanden werden könnten, genügen sie nicht den Darlegungsanforderungen (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).
aa) Zwar kann die fehlende gerichtliche Anforderung, weitere den Streitfall betreffende Akten des Finanzamts zu übersenden, der Grundordnung des Verfahrens widersprechen. Dies setzt aber voraus, dass es sich dabei um Akten handelt, die aus der Sicht des FG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage erheblich sind und für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung sein können. Dabei verfügt das FG über eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Frage, welche Akten es für entscheidungserheblich hält, die den BFH allerdings nicht bindet, wenn die Rechtsauffassung des FG offenkundig fehlerhaft ist. Dies ist in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügenden Weise darzulegen (BFH-Beschluss vom 30.05.2022 - II B 56/21, BFH/NV 2022, 905, Rz 10 und 11).
bb) Hierzu ergibt sich aus der Beschwerde bereits nicht, weshalb das FG nach seiner insoweit maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung verfahrensfehlerhaft von einer weiteren Aktenanforderung abgesehen hat. Die Beschwerde beschränkt sich insoweit nur darauf, eine weitere Aktenanforderung sei erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, ob eine Nichtigkeit auslösende Willkür auf Seiten des FA vorgelegen habe, ohne dies indes ‑‑bis auf den Vorwurf, die Prüfung diene nur missbräuchlichen anderen Ausforschungszwecken‑‑ zu konkretisieren. Dies genügt nicht.
cc) Aus den Ausführungen der Klägerin zu einer angeblichen Beweisvereitelung erschließt sich zudem nicht, wodurch das FA eine Beweisvereitelung hätte erreichen wollen oder können, zumal darüber hinaus als Verfahrensmängel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO nur Verfahrensfehler des FG, nicht aber Verfahrensfehler der Finanzbehörden in Betracht kommen (BFH-Beschluss vom 12.01.2023 - IX B 81/21, BFH/NV 2023, 380, Rz 16).
3. Der Vortrag der Klägerin, das FG habe ihren Antrag, "den Termin am 29.08.2024 aufzuheben und die Sache zu vertagen", verfahrensfehlerhaft abgelehnt, bleibt ebenfalls ohne Erfolg.
a) Nach ständiger BFH-Rechtsprechung wird eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör angenommen, wenn einem Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung (§ 227 Abs. 1 der Zivilprozessordnung ‑‑ZPO‑‑) nicht stattgegeben wird, obwohl erhebliche Gründe vorliegen. Nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO kann ein gerichtlicher Termin nur aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt werden. Liegen erhebliche Gründe im Sinne von § 227 ZPO vor, verdichtet sich das nach dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen zu einer Rechtspflicht (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 08.09.2015 - XI B 33/15, BFH/NV 2015, 1690, Rz 11; vom 16.08.2019 - V B 57/18, BFH/NV 2020, 29, Rz 12; vom 07.03.2025 - XI B 11/24, BFH/NV 2025, 700, Rz 12).
b) Ausgehend davon hat das FG zu Recht den Antrag einige Tage vor der mündlichen Verhandlung durch Beschluss (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 5 ZPO) vom 26.08.2024 abgelehnt, weil erhebliche Gründe, die eine Terminverlegung hätten erforderlich machen können, weder von der Klägerin dargelegt noch sonst ersichtlich seien. Eine Begründung für den Verlegungsantrag enthielt der Schriftsatz der Klägerin vom 23.08.2024 nicht. Vielmehr trug die Klägerin mit diesem Schriftsatz im Wesentlichen nur ihre Auffassung zur Begründetheit der Klage weiter vor. Aus den vorstehend genannten Gründen (s. oben unter 2.) war eine Terminverlegung entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht in Bezug auf dem FG noch nicht vorliegende Akten in Betracht zu ziehen.
4. Mit ihrem weiteren Vorbringen, das Urteil verstoße gegen die Gesetze der Logik und die allgemeinen Denkgesetze, legt die Klägerin keinen Zulassungsgrund im Sinne des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO hinreichend dar.
a) Beide Verstöße wären, so sie denn vorlägen, dem materiellen Recht zuzuordnen und deshalb der Prüfung im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens eines Verfahrensfehlers entzogen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 31.01.2019 - V B 99/16, BFH/NV 2019, 409, Rz 23; vom 26.11.2020 - VI B 29/20, BFH/NV 2021, 443, Rz 13; vom 07.03.2025 - XI B 25/24, BFH/NV 2025, 529, Rz 12).
b) Mit ihrem Vortrag, das FG habe den Rechtsstreit falsch entschieden, stellt die Klägerin die materielle Rechtmäßigkeit der Vorentscheidung in Frage. Ein dahin gehendes Vorbringen vermag die Zulassung der Revision aber grundsätzlich nicht zu rechtfertigen (vgl. allgemein BFH-Beschlüsse vom 29.04.2020 - XI B 113/19, BFHE 268, 480, BStBl II 2020, 476, Rz 20; vom 07.04.2021 - XI B 53/20, BFH/NV 2021, 1062, Rz 23). Dabei kann mangels einer hierauf bezogenen Beschwerdebegründung offenbleiben, ob ein ‑‑ebenfalls zur Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) führender‑‑ qualifizierter Rechtsfehler auch dann vorliegt, wenn dargelegt wird (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO), dass eine nicht auf einen Verfahrensmangel bezogene Rechtsverletzung (Sachrüge) zu einer begründeten Revision (§ 118 Abs. 2 i.V.m. § 126 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 FGO) führt, wobei ohne weiteres erkennbar ‑‑und damit ohne Befassung mit einer nach ihrer sachlichen Tiefe dem Revisionsverfahren vorbehaltenen Argumentation‑‑ mit einem Erfolg der Revision zu rechnen ist (Senatsbeschluss vom 07.04.2025 - V B 7/24, BFH/NV 2025, 710, Rz 35). Denn im Streitfall macht die Klägerin keine in diesem Sinne eindeutige Rechtsverletzung geltend, sondern beschränkt sich inhaltlich auf die Geltendmachung von Verfahrensfehlern.
5. Soweit die Klägerin eingangs ihrer Beschwerdebegründung pauschal geltend macht, "neben vielen einzelnen Verfahrensmängeln, Widerstreit zu Entscheidungen anderer Gerichte und z.T. auch grundsätzlicher Bedeutung einzelner Fragen liegen absolute Revisionsgründe vor, die die Zulassung der Revision ebenso zwingend machen", fehlt es an jedweder Darlegung eines Zulassungsgrundes, die den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entspricht.
6. Der Senat sieht gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO von einer weiteren Begründung sowie von der Darstellung des Sachverhalts ab.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.