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Beschluss vom 29. Juli 2025, VIII B 66/24

Besetzungsrüge bei Sachentscheidung vor Entscheidung über Ablehnungsgesuch

ECLI:DE:BFH:2025:B.290725.VIIIB66.24.0

BFH VIII. Senat

FGO § 51 Abs 1 S 1, FGO § 52a Abs 5 S 1, ZPO § 42 Abs 2, ZPO § 45 Abs 1, ZPO § 47 Abs 1, GKG § 21, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 119 Nr 1

vorgehend Hessisches Finanzgericht , 04. June 2024, Az: 10 K 353/24

Leitsätze

NV: Entscheidet ein abgelehnter Richter in der Sache, bevor über ein gegen ihn gerichtetes nicht offensichtlich unzulässiges Ablehnungsgesuch entschieden worden ist, kann der Mangel als Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung geltend gemacht werden.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 04.06.2024 - 10 K 353/24 aufgehoben.

Die Sache wird an das Hessische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

  1. Der geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) der fehlerhaften Besetzung des Gerichts liegt vor. Er führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (FG) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).

  2. 1. Entscheidet ein abgelehnter Richter in der Sache, bevor über ein gegen ihn gerichtetes nicht offensichtlich unzulässiges Ablehnungsgesuch entschieden worden ist, kann der Mangel als Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 1 FGO geltend gemacht werden. So liegt der Streitfall.

  3. a) Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Grundsätzlich ist, bevor das Verfahren in der Sache fortgesetzt werden kann, über das Ablehnungsgesuch ohne Mitwirkung des oder der abgelehnten Richter zu entscheiden (§ 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 45 Abs. 1 ZPO); der abgelehnte Richter darf nur noch unaufschiebbare Maßnahmen treffen (§ 47 Abs. 1 ZPO). Eine mündliche Verhandlung darf nicht stattfinden oder fortgesetzt werden; eine Entscheidung in der Sache ist ausgeschlossen. Ist das Ablehnungsgesuch offensichtlich unzulässig oder rechtsmissbräuchlich, kann das Gericht ausnahmsweise unter Mitwirkung des abgelehnten Richters darüber im Urteil entscheiden (ständige Rechtsprechung, Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 12.11.2024 - VIII B 87/23, BFH/NV 2025, 33, Rz 5).

  4. b) Während der mündlichen Verhandlung, die nach vorheriger Ablehnung eines Terminsverlegungsantrags der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ohne deren Beteiligung stattfand, ging bei dem FG nach Aktenlage um 12:53 Uhr per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) ein Schriftsatz der Klägerin mit folgendem Wortlaut ein:

    "In dem Rechtsstreit …

    lehne ich hiermit die Vorsitzende Richterin am Hessischen Finanzgericht, A, wegen der Besorgnis der Befangenheit ab.

    Begründung:

    Der Antrag auf Terminsverlegung vom 03.06.2024 wurde trotz erheblicher Gründe abgelehnt.

    Dies ist umso schwerwiegender, weil die Unterzeichnende nicht anderweitig anwaltlich vertreten ist."

  5. Die Einzelrichterin erfuhr davon während der mündlichen Verhandlung nichts und verkündete um 13:05 Uhr am selben Tag ein klageabweisendes Urteil, gegen das sich die Nichtzulassungsbeschwerde richtet.

  6. c) Das Ablehnungsgesuch der Klägerin ist wirksam und rechtzeitig vor Verkündung des Urteils bei dem FG eingegangen. Maßgeblich ist bei der Übermittlung per beA der Zeitpunkt, in dem der Schriftsatz auf dem für das Gericht eingerichteten Server im Netzwerk für das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach gespeichert ist (§ 52a Abs. 5 Satz 1 FGO; BFH-Beschluss vom 25.05.2022 - X B 158/21, BFH/NV 2022, 1184). Das war nach Aktenlage am Verhandlungstag um 12:53 Uhr der Fall. Unerheblich ist, dass der Antrag nicht sofort vorgelegt worden ist und warum das nicht geschehen ist.

  7. Das Ablehnungsgesuch, über das nach Aktenlage (noch) nicht entschieden ist, ist auch nicht offensichtlich unzulässig oder rechtsmissbräuchlich. Da in ihm behauptet wird, die Einzelrichterin habe den Terminsverlegungsantrag zu Unrecht abgelehnt, erfordert seine begründete Zurückweisung ein Eingehen auf den Akteninhalt und damit eine Beurteilung eigenen Verhaltens, die dem abgelehnten Richter verwehrt ist (BFH-Beschluss vom 12.11.2024 - VIII B 87/23, BFH/NV 2025, 33, Rz 5, m.w.N.).

  8. d) Danach hätte das Gericht die mündliche Verhandlung um 12:53 Uhr unterbrechen müssen und durfte ein Urteil in der Sache weder erlassen noch verkünden, bevor über das Ablehnungsgesuch entschieden war. Unerheblich ist, dass das Gericht von dem Ablehnungsgesuch bei Fortsetzung der mündlichen Verhandlung und Verkündung des Urteils keine Kenntnis hatte. Der Mangel muss nur objektiv vorliegen; ein Verschulden des Gerichts wird nicht vorausgesetzt.

  9. e) Im dritten Rechtsgang wird das FG zunächst über das Ablehnungsgesuch der Klägerin entscheiden.

  10. f) Für die weitere Sachbehandlung weist der Senat ohne Bindungswirkung darauf hin, dass durch den (verfahrensfehlerhaften) Erlass des Teilurteils im ersten Rechtsgang in der Hauptsache Erledigung eingetreten ist. Das FG hat im ersten Rechtsgang (ungewollt) mit dem Teilurteil über das richtig verstandene Klagebegehren (Anfechtungsklage) in der Sache abschließend entschieden. Da die Beteiligten in der Folge keine übereinstimmenden Erledigungserklärungen abgegeben haben, musste das Gericht anschließend noch über die (durch sein Verhalten) unzulässig (gegenstandslos) gewordene Klage im Übrigen entscheiden und eine abschließende Kostenentscheidung treffen. In diesem Stadium befindet sich das Verfahren nach der neuerlichen Aufhebung der Endentscheidung und Zurückverweisung noch immer. Bei der Kostenentscheidung wird gegebenenfalls auch zu erwägen sein, welche Kosten bei richtiger Sachbehandlung im ersten Rechtsgang nicht entstanden wären (§ 21 des Gerichtskostengesetzes).

  11. 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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