EGRL 112/2006 Art 167 ; EGRL 112/2006 Art 168 Buchst a ; EGRL 112/2006 Art 178 Buchst a ; EUGrdRCh Art 47 ; AEUV Art 267
Vorabentscheidungsersuchen des Fovarosi Törvenyszek (Ungarn), eingereicht am 17.07.2024, zu folgenden Fragen:
1. Ist die Praxis der Steuerverwaltung
mit Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie und mit dem als allgemeiner Rechtsgrundsatz in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) anerkannten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht in Verbindung mit den tragenden Grundsätzen der Steuerneutralität, der Effektivität und der Rechtssicherheit vereinbar, mit der sie - in Befolgung der Nrn. 1 und 2 des Gutachtens Nr. 5/2016 vom 26. September 2016 der Kammer für Verwaltungs- und Arbeitsrecht der Kuria (Oberstes Gericht, Ungarn), des letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichts, - die vorstehenden Regeln unterschiedlich anwendet, indem sie, wenn sie feststellt, dass der in der Rechnung angegebene wirtschaftliche Vorgang nicht stattgefunden hat, nicht prüft, ob der Rechnungsempfänger Kenntnis von der Steuerhinterziehung bzw. dem Steuerbetrug gehabt hatte oder hätte haben müssen, wenn sie allerdings feststellt, dass der wirtschaftliche Vorgang stattgefunden hat, aber nicht zwischen den in der Rechnung angegebenen Parteien, sie abhängig vom Sachverhalt prüft, ob der Rechnungsempfänger von der Steuerhinterziehung bzw. dem Steuerbetrug wusste oder hätte wissen müssen?
2. Steht das Vorgehen der Steuerverwaltung mit den oben angeführten Artikeln der Mehrwertsteuerrichtlinie und den genannten Rechtsgrundsätzen sowie mit der ihr nach diesem Recht obliegenden, auf objektive Umstände gestützten Beweislast im Einklang, bei dem
a) als Voraussetzung für die Geltendmachung des Rechts auf Vorsteuerabzug unter Verweis auf eine Unterlassung der gebotenen Sorgfalt vom Steuerpflichtigen verlangt wird, das Vorliegen eines die Unwirksamkeit verursachenden Fehlers beim Rechnungsaussteller zu prüfen, der nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der Erfüllung der Pflicht zur Entrichtung der allgemeinen Umsatzsteuer und daher auch nicht mit der Geltendmachung des Rechts auf Vorsteuerabzug steht, wobei gemäß Unionsrecht und nationalem Recht die Pflicht zur Zahlung der Mehrwertsteuer auf das nachweisbare wirtschaftliche Ergebnis auch im Fall eines unwirksamen Vertrags besteht;
b) das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug ohne Prüfung der gebotenen Sorgfalt mit der Begründung versagt wird, dass unter Verweis auf im Prüfungszeitraum in der Sphäre des Rechnungsausstellers eingetretene Umstände nach dem wirtschaftlichen Vorgang festgestellt worden sei, dass der in der Rechnung angegebene wirtschaftliche Vorgang nicht stattgefunden habe;
c) die Last des ergebnislosen Zeugenbeweises auf den den wirtschaftlichen Vorgang mit einer Rechnung nachweisenden Steuerpflichtigen unter Verweis darauf abgewälzt wird, dass für die Gewährung des Vorsteuerabzugs neben der Rechnung auch notwendig sei, dass die Umstände, unter denen der in der Rechnung angegebene wirtschaftliche Vorgang zustande kam, von den in der Rechnung genannten Steuerpflichtigen und den Vertretern der wie auch immer am wirtschaftlichen Vorgang beteiligten Unternehmen detailliert erklärt werden, auch unter Berücksichtigung des vom Gerichtshof aufgestellten Grundsatzes, dass die Beweisregeln des nationalen Rechts die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen dürfen?
3. Sind - wenn die Steuerverwaltung unter Verweis auf die gleichen Umstände, die sie auch im Zusammenhang mit der Kenntnis prüft, feststellt, dass der wirtschaftliche Vorgang nicht stattgefunden habe - unter Berücksichtigung der genannten Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie, des Art. 47 der Charta und des Vorrangs des Unionsrechts im vorliegenden Fall die Entscheidungen des Gerichtshofs mit Hinweisen zu den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie über das Recht auf Vorsteuerabzug bzw. zu den im Rahmen der Kenntnis des Steuerpflichtigen beurteilten Umständen anwendbar?
4. Stellt es einen Verstoß gegen Art. 267 AEUV, den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und das Recht auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 47 der Charta dar, wenn das letztinstanzliche mitgliedstaatliche Gericht
a) unter Verweis auf Unterschiede im Sachverhalt die Entscheidungen des Gerichtshofs zum Vorsteuerabzug im Rahmen der Überprüfung von Entscheidungen über den Vorsteuerabzug mit der Begründung nicht anwendet bzw. die Bezugnahme auf diese Entscheidungen im erneuten Verfahren mit der Begründung untersagt, dass die Entscheidungen des Gerichtshofs im Vergleich zu den Umständen in der zu überprüfenden Entscheidung nur Feststellungen zu einzelnen Umständen enthielten sowie unter Verweis auf die Unterscheidung in den Nrn. 1 und 2 des Gutachtens Nr. 5/2016 vom 26. September 2016 der Kammer für Verwaltungs- und Arbeitsrecht der Kuria (Oberstes Gericht), nach deren Logik die Mehrwertsteuerentscheidungen des Gerichtshofs nicht anwendbar seien, wenn die Steuerverwaltung feststellt, dass der in der Rechnung angegebene wirtschaftliche Vorgang nicht stattgefunden habe, obwohl der Kläger die Rechtmäßigkeit gerade dieser Feststellung in seiner Klage bestreitet,
b) nachdem es erklärt hat, dass die Entscheidung des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache fehlerhaft angewandt worden sei, entgegen den Entscheidungen des Gerichtshofs für das erneute Verfahren die Anweisung erteilt, dass das Gericht das neue Verfahren im Einklang mit der im - nicht verbindlichen - Gutachten der Kammer für Verwaltungs- und Arbeitsrecht der Kuria (Oberstes Gericht) zusammengefassten und seit dessen Verkündung auch von ihr verfolgten Rechtsprechung durchzuführen hat,
c) in der vorliegenden Rechtssache von einem Urteil, das auf der Grundlage einer Entscheidung des Gerichtshofs im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens ergangen ist, im Rechtsmittelverfahren abweicht und eine dem entgegenstehende Entscheidung trifft, ohne dass es, trotz der in seiner Entscheidung festgestellten Auslegungswidersprüche in Bezug auf das Unionsrecht, selbst ein Vorabentscheidungsverfahren einleitet?
5. Kann im Hinblick auf die Gewährleistung der im vorstehenden Punkt aufgeführten Rechte und Grundsätze sowie im Hinblick auf die Pflicht, unionsrechtswidriges nationales Recht nicht anzuwenden, ein vom letztinstanzlichen Gericht eines Mitgliedstaats zur Wiederholung des Verfahrens verpflichtetes Gericht im erneuten Verfahren von der ihm erteilten Anweisung abweichen, wenn es diese für unionsrechtswidrig hält, diese vom letztinstanzlichen Gericht erteilt wurde, ohne ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet zu haben, bzw. wenn nach der Anordnung eines neuen Verfahrens in einem Fall mit ähnlichem Sachverhalt zur gleichen Rechtsfrage eine Entscheidung des Gerichtshofs ergangen ist, die der dieser Verpflichtung zugrundeliegenden Auslegung des Rechts entgegensteht, oder kann von der Anweisung des letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats nur dann abgewichen und die später ergangene Entscheidung des Gerichtshofs angewandt werden, wenn das zur Wiederholung des Verfahrens verpflichtete Gericht im erneuten Verfahren ein Vorabentscheidungsverfahren einleitet?
6. Sind unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts und folglich der Verpflichtung, unionsrechtswidriges nationales Recht nicht anzuwenden, die Antworten auf die Fragen 4 und 5 unabhängig vom Streitgegenstand in allen Rechtssachen anwendbar oder nur in Rechtssachen, in denen es um die Beurteilung des Rechts auf Vorsteuerabzug geht?