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Urteil vom 25. Juli 2019, III R 34/18

Koordinierung von Kindergeldansprüchen zwischen zwei EU-Staaten

ECLI:DE:BFH:2019:U.250719.IIIR34.18.0

BFH III. Senat

EStG § 70 Abs 2, EStG § 65, EStG § 63 Abs 1 S 1 Nr 1, EStG § 62, EStG § 31 S 1, EStG § 32 Abs 1 Nr 1, EStG § 32 Abs 3, EGV 883/2004 Art 1 Buchst z, EGV 883/2004 Art 2 Abs 1, EGV 883/2004 Art 3 Abs 1 Buchst j, EGV 883/2004 Art 68 Abs 1, EGV 883/2004 Art 68 Abs 2 S 1, FGO § 118 Abs 2, FGO § 120 Abs 3 Nr 2 Buchst b, FGO § 76, AO § 173 Abs 1 Nr 1, EStG VZ 2016 , EStG VZ 2017

vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 23. Januar 2018, Az: 5 K 1711/17 (Kg)

Leitsätze

1. Familienleistungen nach dem polnischen Gesetz über staatliche Beihilfen zur Kindererziehung vom 17.02.2016 (sog. 500+) sind auf das in Deutschland gezahlte Kindergeld anzurechnen .

2. Es handelt sich auch nach europarechtlichen Grundsätzen um Familienleistungen gleicher Art .

3. Die Mitteilung einer ausländischen Behörde über die Gewährung einer Familienleistung hat Bindungswirkung für die Familienkasse (vgl. Senatsurteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237). Erfolgt diese erst nach der Kindergeldfestsetzung, so stellt diese eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 EStG dar .

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 24.01.2018 - 5 K 1711/17 (Kg) wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Streitig ist die Anrechnung der polnischen Kinderbeihilfe in Höhe von 500 PLN (500+) auf das in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum April 2016 bis September 2017.

  2. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger und Vater der im Streitzeitraum minderjährigen Töchter K und W. Er wurde von seinem polnischen Arbeitgeber im streitigen Zeitraum nach Deutschland entsandt und hatte hier einen Wohnsitz.

  3. Mit Bescheid vom 23.06.2016 bewilligte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) dem Kläger Kindergeld ab September 2015 für beide Kinder in voller Höhe. Am 18.09.2017 teilte die polnische Behörde ROPS der Familienkasse mit dem Formular F003 mit, dass an den Kläger für den Streitzeitraum monatlich 500 PLN gezahlt worden seien. Mit Bescheid vom 09.10.2017 änderte die Familienkasse den Kindergeldfestsetzungsbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) und rechnete für April 2016 bis September 2017 polnische Familienleistungen in Höhe von monatlich 500 PLN, insgesamt 2.122,38 €, auf das für W gezahlte Kindergeld an und forderte diesen Betrag zurück. Den dagegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 23.10.2017 zurück.

  4. Die anschließend erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte in seinem Urteil zur Begründung aus, dass zum einen die Familienkasse den bestandskräftigen Kindergeldfestsetzungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO habe ändern können, da die Familienkasse erst im September 2017 von den polnischen Familienleistungen erfahren habe. Zum anderen sei die polnische Familienleistung nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unter Beachtung des europäischen Primärrechts anzurechnen.

  5. Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

  6. Der Kläger beantragt,
    das Urteil des Sächsischen FG vom 24.01.2018 - 5 K 1711/17 (Kg) sowie den Bescheid vom 09.10.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.10.2017 aufzuheben,
    hilfsweise das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sächsische FG zurückzuverweisen.

  7. Die Familienkasse beantragt,
    die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision ist unbegründet. Sie war daher nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

  2. Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die polnische Familienleistung (500+) auf das deutsche Kindergeld anzurechnen ist (dazu 2.) und der Bescheid vom 23.06.2016 verfahrensrechtlich geändert werden konnte (dazu 3.).

  3. 1. Der im Inland wohnende Kläger erfüllt, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist, die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. §§ 62 ff. EStG i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG für seine in Polen lebende Tochter W.

  4. 2. Dieser Anspruch des Klägers auf Gewährung von Kindergeld ist jedenfalls in Höhe der in Polen geleisteten Familienleistung (500+) nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 ‑‑Grundverordnung‑‑) ausgeschlossen.

  5. Ist der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche i.S. der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (Senatsurteil vom 04.02.2016 - III R 9/15, BFHE 253, 139, BStBl II 2017, 121, Rz 17, m.w.N.).

  6. a) Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet.

  7. Der Kläger ist Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union (EU) und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

  8. b) Weiterhin ist auch die Koordinierungsregel des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 anwendbar, da konkurrierende Ansprüche i.S. dieser Vorschrift vorliegen.

  9. Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 werden beim Zusammentreffen von Ansprüchen die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 Vorrang haben. Eine Kumulierung von konkurrierenden Ansprüchen liegt nach dieser Vorschrift auch dann vor, wenn eine Person gleichzeitig Anspruch auf zwei Familienleistungen für denselben Familienangehörigen hat (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ Wiering vom 08.05.2014 - C-347/12, EU:C:2014:300, Rz 56, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht ‑‑ZESAR‑‑ 2015, 113).

  10. aa) Für die Frage, ob ein Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen vorliegt, ist es im Grundsatz ausreichend, dass ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die entsprechende Leistung nach deutschem und ausländischem Recht besteht. Dabei hat die Prüfung eines materiell-rechtlichen Anspruchs nach ausländischem Recht zu unterbleiben, wenn hierüber bereits eine ausländische Behörde für den Streitzeitraum entschieden hat und dieser Entscheidung Bindungswirkung für die deutschen Behörden und Gerichte zukommt (Senatsurteile vom 13.06.2013 - III R 63/11, BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711, Rz 22; III R 10/11, BFHE 241, 562, BStBl II 2014, 706, Rz 25; vom 26.07.2017 - III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 16).

  11. bb) Im vorliegenden Fall treffen die Ansprüche des Klägers auf Familienleistungen nach deutschem Recht und die Ansprüche auf Familienleistungen nach polnischem Recht für dasselbe Kind und denselben Zeitraum aufeinander. Die polnische Behörde hat mit Bindungswirkung für den deutschen Träger (die Familienkasse) eine polnische Familienleistung in Höhe von 500 PLN für die Tochter W für den Streitzeitraum festgestellt.

  12. Aufgrund der abgegebenen Notifizierungserklärung der Republik Polen gemäß Art. 9 der VO Nr. 883/2004 zählen zu den Rechtsvorschriften, Systemen und Regelungen i.S. des Art. 3 der VO Nr. 883/2004 ab dem 01.04.2016 als Familienleistungen die mit Gesetz vom 17.02.2016 über staatliche Hilfe bei der Kindererziehung (Gesetzesblatt 2016, Pos. 195) eingeführte "Kinderbeihilfe 500 PLN".

  13. c) Nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 ist der Anspruch auf polnische Familienleistung 500+ gegenüber dem Anspruch auf deutsches Kindergeld vorrangig.

  14. aa) Für die Frage, was die Ansprüche i.S. des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 auslöst, ist darauf abzustellen, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der VO Nr. 883/2004 unterstellt ist (Senatsurteil in BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 25; Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Fach D Art. 68 VO Nr. 883/2004, Rz 5; FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.10.2013 - 3 K 3137/12, Entscheidungen der Finanzgerichte 2014, 214, Rz 11). Insoweit unterscheidet das EU-Recht in Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nur zwischen den vier Anknüpfungspunkten Beschäftigung, selbständige Erwerbstätigkeit, Rente und Wohnsitz (Senatsurteil vom 22.02.2018 - III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 30).

  15. Der Kläger ist nach den den Senat bindenden Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO) entsandter Arbeitnehmer und unterliegt daher weiterhin gemäß Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 den polnischen Rechtsvorschriften. Der Umstand, dass der Kläger während seiner begrenzten Entsendungstätigkeit weiterhin den polnischen Rechtsvorschriften unterstellt ist, entfaltet aber keine europarechtliche Sperrwirkung hinsichtlich des Rechtsanspruchs nach deutschem Recht (Senatsurteil vom 16.05.2013 - III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, Rz 13, m.w.N.). Es bedarf für die Anwendung des deutschen Rechts auch keines nationalen Anwendungsbefehls. Da der Tatbestand der Erwerbstätigkeit als entsandter Arbeitnehmer für die Anspruchsauslösung der polnischen Rechtsvorschriften heranzuziehen ist und der Kläger auch keine inländische Rente erhält, kommt in unionsrechtlicher Hinsicht eine Anspruchsauslösung der deutschen Rechtsvorschriften nur durch den Wohnort in Betracht.

  16. bb) Die Anspruchskumulierung ist nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufzulösen. Danach sind zur Vermeidung grenzüberschreitender Doppelleistungen konkurrierende Kindergeldansprüche wie folgt zu priorisieren: Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer EU-Mitgliedstaaten zu gewähren, so stehen nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 an erster Stelle die durch eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche. Hiernach folgen die durch den Bezug einer Rente und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.

  17. cc) Danach war Polen im vorliegenden Fall der vorrangige und Deutschland der nachrangige Staat. Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 wird der inländische Kindergeldanspruch in Höhe der ausländischen Familienleistungen ausgesetzt, so dass nur die Differenz zwischen dem deutschen Kindergeld und den polnischen Familienleistungen zu zahlen ist. Differenzkindergeld ist nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 jedoch nicht zu zahlen, wenn der Kindergeldanspruch in Deutschland ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird; ob dies hier zutrifft, braucht der Senat nicht zu entscheiden, da die Familienkasse im Streitfall Differenzkindergeld gezahlt hat.

  18. dd) Soweit der Kläger auf das EuGH-Urteil Wiering (EU:C:2014:300, Rz 54 ff., ZESAR 2015, 113) hinweist, kann der Senat die Frage offen lassen, ob die dort ausgeführten Grundsätze zur Gleichartigkeit der Leistungen bei der Auslegung der alten Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) i.V.m. Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern auch auf die neue Verordnung Nr. 883/2004 Anwendung finden (für eine Anwendung FG Münster, Urteil vom 05.08.2016 - 4 K 3544/15 (Kg), Rz 31, juris; a.A. Fuchs, Zeitschrift für Sozialrecht 2015, 121, 126; vgl. Helmke in Helmke/Bauer, a.a.O., Fach D VO Nr. 883/2004, Rz 40). Denn die vom FG getroffenen Feststellungen, die für den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindend sind, reichen aus, um die Vergleichbarkeit der Leistungen des deutschen Kindergeldes und der Familienbeihilfe 500+ auch nach den europarechtlichen Grundsätzen zu bejahen.

  19. (1) Unter Familienleistungen, die in Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 als Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten definiert werden, sind nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH staatliche Beiträge zum Familienbudget zu verstehen, welche die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringern. Dadurch soll das Familienbudget entlastet und der Lebensstandard der Familie verbessert werden. Familienleistungen sollen dazu dienen, Arbeitnehmer mit Familienlasten dadurch sozial zu unterstützen, dass sich die Allgemeinheit an diesen Lasten beteiligt (EuGH-Urteile Offermanns vom 15.03.2001 - C-85/99, EU:C:2001:166, und Maaheimo vom 07.11.2002 - C-333/00, EU:C:2002:641, jeweils m.w.N.; Senatsurteil vom 17.04.2008 - III R 36/05, BFHE 221, 50, BStBl II 2009, 921, Rz 23).

  20. (2) Von Familienleistungen gleicher Art ist auszugehen, wenn ihr Sinn und Zweck sowie ihre Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung übereinstimmen (EuGH-Urteil Wiering, EU:C:2014:300, Rz 54). Dabei hat der EuGH ausdrücklich klargestellt, dass angesichts der zahlreichen Unterschiede zwischen den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit nicht verlangt werden darf, dass die Berechnungsgrundlagen und die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung völlig gleich sein müssten (EuGH-Urteil Wiering, EU:C:2014:300, Rz 55).

  21. Nach diesen Grundsätzen liegt eine Vergleichbarkeit der hier gewährten Familienleistungen vor.

  22. (a) Das trifft zunächst für den Sinn und Zweck der inländischen und ausländischen Familienleistung zu.

  23. Das FG hat zum einen zu Recht festgestellt, dass dem Kindergeld nach § 31 EStG eine Doppelfunktion zukommt. Es dient gemäß § 31 Satz 1 EStG der verfassungsrechtlich gebotenen steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes einschließlich des Bedarfs für Betreuung und Erziehung und Ausbildung und, soweit das Kindergeld hierfür nicht erforderlich ist, nach § 31 Satz 2 EStG der sozialrechtlichen Förderung der Familie (vgl. hierzu Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.06.2004 - 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570, unter C.II.1. am Ende; Senatsbeschluss vom 14.08.2012 - III B 58/12, BFH/NV 2012, 1977, Rz 9).

  24. Das FG hat zum anderen ausgehend vom Inhalt des polnischen Gesetzes über staatliche Beihilfen zur Kindererziehung vom 17.02.2016 (Art. 4) sowohl nach der von der Familienkasse vorgelegten als auch der vom Kläger vorgelegten Übersetzung ausgeführt, dass das Gesetz die teilweise Deckung der Ausgaben, die im Zusammenhang mit der Erziehung des Kindes einschließlich der Betreuung des Kindes und der Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse entstehen, bezwecke.

  25. (b) Es liegt auch eine ausreichende Vergleichbarkeit hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen vor.

  26. Sowohl bei dem deutschen Kindergeld als auch bei der polnischen Familienleistung 500+ handelt es sich um regelmäßige Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und des Alters der Kinder gewährt werden. Das FG hat insoweit zu Recht darauf abgestellt, dass die polnische Familienleistung ‑‑ebenso wie das deutsche Kindergeld‑‑ nicht den Ausgleich eines Verdienstausfalls bezweckt.

  27. (c) Soweit der Kläger geltend macht, das FG hätte es verfahrensfehlerhaft unterlassen, eine amtliche Übersetzung des Gesetzes einzuholen, hat die Rüge keinen Erfolg. Nach § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO sind, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen zu bezeichnen, die den Mangel ergeben. Eine Verfahrensrüge genügt diesen Anforderungen nur, wenn der Revisionskläger schlüssig Tatsachen bezeichnet, aus denen sich ergibt, dass ein Verfahrensmangel vorliegt, und darlegt, dass das angefochtene Urteil auf ihm beruhen kann (vgl. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 120 FGO Rz 201, m.w.N.). Wird ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 FGO) mit der Begründung gerügt, das FG habe auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufklären müssen, so ist genau anzugeben, welchen vorgetragenen Tatsachen das FG auch ohne Beweisantritt hätte nachgehen müssen, welche Beweismittel sich dem FG hätten aufdrängen müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich aus diesen Beweismitteln für den festgestellten Sachverhalt ergeben hätten und inwiefern das angefochtene Urteil auf der unterlassenen Sachaufklärung beruhen kann (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 13.10.1994 - IV R 70/93, BFH/NV 1995, 529, Rz 9).

  28. Im Streitfall wird die Verfahrensrüge diesen Anforderungen nicht gerecht. Das FG war aufgrund der vorgelegten Übersetzungen nicht gehalten, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Die Feststellungen waren ausreichend, um die Vergleichbarkeit der Leistungen zu überprüfen. Selbst der Kläger hat in seiner Revisionsbegründung auf Art. 4 Nr. 1 des polnischen Gesetzes hingewiesen, nach dem "durch das Erziehungsgeld … die Kosten der Kindererziehung und die Kosten für die häusliche Betreuung des Kindes abgedeckt werden" sollen.

  29. 3. Das FG hat im Ergebnis auch zu Recht die Befugnis der Familienkasse zur Änderung des Bescheids vom 23.06.2016 bejaht. Soweit die Familienkasse eine falsche Änderungsnorm (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) in dem streitigen Bescheid angegeben hat, ist dies unschädlich.

  30. a) Der Senat ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH berechtigt, bei Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Änderungsbescheids die von der Behörde in dem Bescheid als Korrekturnorm herangezogene Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gegen eine andere Rechtsgrundlage auszutauschen (BFH-Urteil vom 12.06.2018 - VIII R 38/14, BFH/NV 2018, 1141, Rz 33, m.w.N.).

  31. b) Der Festsetzungsbescheid vom 23.06.2016 konnte nach § 70 Abs. 2 EStG geändert werden.

  32. aa) Diese Vorschrift betrifft grundsätzlich den Fall, dass eine ursprünglich rechtmäßige Festsetzung durch Änderung der für den Bestand des Kindergeldanspruchs maßgeblichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes nachträglich unrichtig wird (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 17.12.2014 - XI R 15/12, BFHE 248, 188, BStBl II 2016, 100, Rz 18, m.w.N.).

  33. bb) Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

  34. Wegen der die Familienkasse für den Streitzeitraum bindenden Mitteilung der ausländischen Behörde über die Gewährung der polnischen Familienleistung 500+ ist eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten, durch die die ursprünglich rechtmäßig erfolgte Kindergeldfestsetzung nachträglich unrichtig geworden ist. Denn die polnische Familienleistung musste auf die deutsche Familienleistung angerechnet werden (s.o. Punkt 2.).

  35. (1) Im Unterschied zu § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG (vgl. hierzu Senatsurteil in BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711) wird die Familienkasse bei der Prüfung der Koordinierungsregel des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nicht verpflichtet, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob für ein Kind ein Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen nach ausländischem Recht bestehen könnte (Senatsurteil in BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 20, m.w.N.). Insoweit ist bei der Prüfung des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 vorrangig das auf dem Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten basierende Koordinierungsverfahren (dazu insbesondere Art. 60 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 und Art. 59 f. der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)‑‑ zwischen den jeweils zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten durchzuführen (im Einzelnen Senatsurteil in BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 18 ff.).

  36. Schon seit der Vorgängerregelung zu Art. 68 der VO Nr. 883/2004 (Art. 76 der VO Nr. 1408/71) werden bei der Frage, ob ein dem Kindergeld vergleichbarer Anspruch auf ausländische Familienleistungen besteht, in allen Mitgliedstaaten entsprechende Vordrucke der EU verwendet (vgl. Beschluss Nr. 147 der Verwaltungskommission vom 10.10.1990, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 235/21 vom 23.08.1991 zum Papiervordruck E 411; bzw. nach den Art. 1 Abs. 2 Buchst. d und Art. 2 ff. der VO Nr. 987/2009, z.B. den Vordruck F003 im Rahmen des strukturierten elektronischen Dokuments). Die Formulare dienen der Überprüfung, ob ein Zusammentreffen von Familienleistungen vorliegt und sind grundsätzlich verbindlich (vgl. Art. 5 der VO Nr. 987/2009). Der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (ABlEU 2012, Nr. C 326) verpflichtet den ausstellenden Träger, den Sachverhalt, der für den Inhalt seiner Erklärung nach seinen eigenen Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten (vgl. EuGH-Urteile Herbosch Kiere vom 26.01.2006 - C-2/05, EU:C:2006:69, Rz 22, m.w.N.; Kommission/Belgien vom 11.07.2018 - C-356/15, EU:C:2018:555, Rz 86). Damit verfolgen die entsprechenden Vordrucke über entsprechende ausländische Familienleistungen auch den Zweck, die Träger der Mitgliedstaaten, die die Anwendbarkeit der in Art. 68 der VO Nr. 883/2004 getroffenen Koordinierungsregelung überprüfen, von der Verpflichtung und Berechtigung zu entheben, die Frage nach dem tatsächlichen Bestehen eines materiellen Anspruchs im anderen Mitgliedstaat zu beantworten (Senatsurteil in BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 20). Insoweit hat die Entscheidung einer ausländischen Behörde über das Bestehen eines Anspruchs auf Familienleistungen nach nationalem Recht Bindungswirkung mit der Folge, dass diese ohne eine weitere Überprüfung bei der Kindergeldfestsetzung und -aufhebung zu berücksichtigen ist (Senatsurteil in BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 20).

  37. (2) Hat eine Entscheidung einer Behörde im EU-Ausland über das Bestehen ausländischer Familienleistungen Bindungswirkung, so stellt die Mitteilung dieser Entscheidung eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 EStG dar. Insoweit haben sich die Verhältnisse gegenüber denen, die der ursprünglichen Festsetzung zugrunde lagen, in erheblicher Weise i.S. des § 70 Abs. 2 EStG geändert.

  38. Es liegt auch keine geänderte Rechtsauffassung der Familienkasse vor, die nicht zu einer Änderung der bestandskräftigen Festsetzung gemäß § 70 Abs. 2 EStG berechtigen würde (Senatsurteil vom 28.06.2006 - III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714). Die Familienkasse, ist ‑‑wie oben dargestellt‑‑ von der Verpflichtung und Berechtigung enthoben, die Frage nach dem tatsächlichen Bestehen eines materiellen Anspruchs im anderen Mitgliedstaat zu beantworten. Die Familienkasse hat daher das Recht nicht von Anfang an fehlerhaft angewandt.

  39. cc) Bei einer für den Kindergeldanspruch wesentlichen Änderung der Verhältnisse ist die Festsetzung des Kindergeldes nach § 70 Abs. 2 EStG vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben. Da nach der Mitteilung der ausländischen Behörde der Kläger für den gesamten Streitzeitraum die polnische Familienleistung 500+ erhalten hat, war die insoweit erfolgte rückwirkende Änderung rechtmäßig. Die Familienkasse hat keinen Ermessensspielraum. Auf eine etwaige Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch die Familienkasse kommt es nicht an (BFH-Urteile in BFHE 248, 188, BStBl II 2016, 100, Rz 22; vom 25.07.2001 - VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81, Rz 16; Senatsurteil vom 20.11.2008 - III R 53/05, BFH/NV 2009, 564, Rz 26).

  40. 4. Da aufgrund der rechtmäßigen Änderung der Kindergeldfestsetzung der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes in Höhe der polnischen Familienleistung 500+ weggefallen war, konnte die Familienkasse gemäß § 37 Abs. 2 AO das danach zu viel gezahlte Kindergeld in Höhe von 2.122,38 € zurückfordern.

  41. 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.

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