ECLI:DE:BFH:2020:U.230120.IIIR16.19.0
BFH III. Senat
AO § 227
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 23. Januar 2019, Az: 4 K 9126/16
Leitsätze
NV: Die Rückforderung von Kindergeld wegen der Verletzung von Mitwirkungspflichten stellt keine Sanktion i.S. der Rechtsprechung des BVerfG dar (vgl. BVerfG-Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16, BGBl I 2019, 2046, Rz 130). Es fehlt insoweit bereits am Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung .
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 24.01.2019 - 4 K 9126/16 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über den Billigkeitserlass einer Kindergeldrückforderung gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) für den Zeitraum von September 2013 bis einschließlich Juli 2014 (Streitzeitraum).
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter der im März 1994 geborenen Tochter J. Nach Abschluss ihrer schulischen Laufbahn begann J eine Ausbildung zur Bürokauffrau, die sie im November 2011 unterbrach. Am 13.03.2012 wurde der erste Sohn der J geboren. Die Mutterschutzfrist für J lief bis Mai 2012. Mit Wirkung zum 15.10.2012 wurde der Ausbildungsvertrag der J aufgehoben. Bis zum 12.05.2013 nahm J Elternzeit in Anspruch und lebte mit ihrem Sohn bis August 2013 bei der Klägerin. Ab September 2013 zog J in eine eigene Wohnung. Am 10.06.2014 wurde der zweite Sohn der J geboren. Die Mutterschutzfrist für J lief bis August 2014, danach befand sie sich in Elternzeit.
Im Mai 2012 hatte die Klägerin u.a. für J Kindergeld beantragt und dabei angegeben, dass sich J in der Zeit vom 15.08.2011 bis 14.08.2014 in Schul- oder Berufsausbildung befinde bzw. befinden werde. Die Klägerin unterzeichnete mit ihrer eigenhändigen Unterschrift folgenden Text:
"Ich versichere, dass ich alle Angaben wahrheitsgetreu gemacht habe. Mir ist bekannt, dass ich jede Änderung, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung ist, unverzüglich der Familienkasse mitzuteilen habe. Das Merkblatt über Kindergeld habe ich bereits erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen."
Aus den Merkblättern zum Kindergeld für die Jahre 2012 und 2013 geht hervor, dass die Familienkasse unverzüglich zu benachrichtigen ist, wenn ein Kind den Haushalt des Kindergeldberechtigten verlässt, ein über 18 Jahre altes Kind seine Schul- oder Berufsausbildung wechselt, beendet oder unterbricht oder schwanger ist und die Mutterschutzfrist beginnt. Mit Bescheid vom 01.06.2012 setzte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) Kindergeld ab April 2012 gegenüber der Klägerin für J in der gesetzlichen Höhe fest.
Seit dem 01.09.2013 bezog J Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Bei der Berechnung des zu berücksichtigenden monatlichen Einkommens wurde das Kindergeld berücksichtigt.
Auf Rückfrage vom 09.07.2014 teilte die Klägerin der Familienkasse zunächst mit, dass die Tochter zwei Kinder zur Welt gebracht habe und sich in Elternzeit befunden habe, später, dass sie die Ausbildung bereits zum 15.10.2012 beendet habe. Mit Bescheid vom 06.10.2014 hob die Familienkasse gegenüber der Klägerin die Kindergeldfestsetzung für J von Juni 2012 bis Juli 2014 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf und forderte das überzahlte Kindergeld zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die besonderen Anspruchsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG nicht mehr erfüllt gewesen seien. Der Einspruch hiergegen hatte keinen Erfolg. Während des anschließenden Klageverfahrens erließ die Familienkasse einen Änderungsbescheid, durch den die Kindergeldfestsetzung nur noch für die Zeit von November 2012 bis Juli 2014 aufgehoben und das Kindergeld insoweit zurückgefordert wurde. Der Rechtsstreit endete mit einer Erledigung der Hauptsache.
Mit Schreiben vom 06.11.2015 beantragte die Klägerin den Erlass der Kindergeldrückforderung aus Billigkeitsgründen, soweit diese den Zeitraum September 2013 bis Juli 2014 betraf. Ein Billigkeitserlass sei gerechtfertigt, da das Kindergeld bei der Berechnung der Höhe der Leistungen nach dem SBG II als Einkommen angesetzt worden sei und eine nachträgliche Korrektur dieser Leistungen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht möglich sei.
Die Familienkasse lehnte den Erlassantrag mit Bescheid vom 10.05.2016 ab. Einspruch und Klage hiergegen hatten keinen Erfolg. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2019, 1734 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung von Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Sie ist der Ansicht, das FG habe die unzureichende Zusammenarbeit der Behörden im Dreiecksverhältnis zwischen Leistungsempfänger, Familienkasse und Sozialleistungsträger entgegen dem Rechtsgedanken des § 86 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch nicht ausreichend berücksichtigt.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 10.05.2016 sowie der Einspruchsentscheidung vom 01.07.2016 die Familienkasse zu verpflichten, die Rückforderung von Kindergeld gegen die Klägerin für die Zeit von September 2013 bis Juli 2014 zu erlassen.Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Ablehnung des beantragten Billigkeitserlasses durch die Familienkasse nicht zu beanstanden ist.
1. Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (grundlegend: Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971 - GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Dem folgt die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu § 227 AO (z.B. BFH-Urteile vom 18.09.2018 - XI R 36/16, BFHE 262, 297, BStBl II 2019, 87, Rz 27, und vom 13.09.2018 - III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 13). Im finanzgerichtlichen Verfahren kann die behördliche Ermessensentscheidung nach § 102 FGO nur daraufhin überprüft werden, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten worden sind (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 102 Rz 15, m.w.N.).
2. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen i.S. des § 227 AO ist anzunehmen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. Senatsurteile in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 13; vom 13.09.2018 - III R 48/17, BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 13, und vom 20.02.2019 - III R 28/18, BFH/NV 2019, 825, Rz 12, jeweils m.w.N.).
3. Das FG ging in der Vorentscheidung zu Recht davon aus, dass bei einer Mitwirkungspflichtverletzung der Klägerin kein Anspruch auf Billigkeitserlass gemäß § 227 AO besteht.
a) Allein der Umstand, dass das Kindergeld im Streitfall auf die von J bezogenen Sozialleistungen angerechnet wurde, verpflichtet die Familienkasse nicht zu einem Billigkeitserlass. Die Anrechnung kann nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte nicht rückabgewickelt werden, weil es allein auf den tatsächlichen Zufluss des Kindergeldes beim Sozialleistungsempfänger ankommt und die nachträgliche Gewährung von Sozialleistungen ausgeschlossen ist. Es fehlt zwar eine gesetzliche Regelung der systemübergreifenden Rückabwicklung von zu Unrecht gewährtem Kindergeld, das auf Sozialleistungen angerechnet wurde. Dies ist jedoch noch kein Grund, in einschlägigen Fällen einen Billigkeitserlass als zwingend anzusehen (Senatsurteile in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 17; in BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 17; vom 08.11.2018 - III R 31/17, BFH/NV 2019, 557, Rz 16, und in BFH/NV 2019, 825, Rz 14, jeweils m.w.N.). Ein Anspruch auf Billigkeitserlass kann in Betracht kommen, wenn der Kindergeldberechtigte seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist, der Rückforderungsanspruch aber durch ein Verschulden oder eine fehlerhafte Arbeitsweise der Behörden entstanden ist (vgl. Senatsurteile in BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 16, und in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 21). Diese Sichtweise entspricht auch der sozialgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BSG-Urteil vom 23.08.2011 - B 14 AS 165/10 R, Die Sozialgerichtsbarkeit 2012, 470, Rz 26).
b) Dem steht auch nicht das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes) entgegen. Ein Erlass ist nicht von Verfassungs wegen geboten. Denn die Rückforderung beruht im Streitfall nicht auf einer unzureichenden Ausgestaltung einer gerechten Sozialordnung, sondern auf der Mitwirkungspflichtverletzung der Klägerin (Senatsurteil in BFH/NV 2019, 557, Rz 19, m.w.N.). Darüber hinaus stellt sie keine Sanktion i.S. der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dar (vgl. BVerfG-Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16, BGBl I 2019, 2046, Rz 130). Es fehlt insoweit bereits am Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung.
4. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Grundsätzen. Das FG hat die Klageabweisung rechtsfehlerfrei damit begründet, dass bei der Würdigung und Abwägung der Versäumnisse der Klägerin kein Anspruch auf Erlass der Kindergeldrückforderung besteht. Denn die Klägerin hat nach den Feststellungen des FG die Familienkasse nicht über die Beendigung der Ausbildung der Tochter und über deren Schwangerschaft informiert und erst nach Aufforderung die für die ‑‑richtige‑‑ Kindergeldfestsetzung maßgeblichen Umstände mitgeteilt; demgegenüber hat sich die Familienkasse an die gesetzlichen Vorgaben gehalten.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.