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Urteil vom 20. Februar 2025, VI R 18/22

Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, auch wenn Post regelmäßig nicht an allen Werktagen zugestellt wird

ECLI:DE:BFH:2025:U.200225.VIR18.22.0

BFH VI. Senat

AO § 108 Abs 1, AO § 122 Abs 2 Nr 1, AO § 355 Abs 1 S 1, AO § 118, BGB § 187 Abs 1, BGB § 188 Abs 2, PUDLV § 2 Nr 5

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 24. August 2022, Az: 7 K 7045/20

Leitsätze

1. Der Umstand, dass der vom Finanzamt beauftragte Postdienstleister an der Anschrift des Bekanntgabeadressaten an einem Werktag innerhalb der Dreitagesfrist keine Zustellungen vornimmt, steht der Zugangsvermutung in § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung nicht entgegen.

2. Dies gilt auch dann, wenn an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Postzustellung erfolgt, weil der zustellfreie Tag an einen Sonntag grenzt.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 24.08.2022 - 7 K 7045/20 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Die in A wohnhafte Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erzielte im Streitjahr (2017) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Ihre Einkommensteuererklärung für das Streitjahr fertigte sie ohne Hilfe eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe an.

  2. Unter dem 15.06.2018, einem Freitag, erließ der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr. Der an die Klägerin als Inhalts- und Bekanntgabeadressatin gerichtete Bescheid wurde am selben Tag der … AG (X AG), einem Postdienstleistungsunternehmen, übergeben. Dieses stellt im Wohnviertel der Klägerin Post nur an maximal fünf Arbeitstagen der Woche zu.

  3. Die Klägerin war vom 02.05.2018 bis Montag, den 18.06.2018, beruflich in B tätig. Während dieser Zeit hatte sie eine Freundin und ihre Mutter mit der Leerung des Briefkastens betraut. Am Morgen des 19.06.2018 kehrte die Klägerin nach A in ihre Wohnung zurück und fand ‑‑ausweislich der Feststellungen des Finanzgerichts (FG)‑‑ in ihrem Briefkasten den streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid vor. Noch am selben Tag übersandte sie diesen ‑‑gegen 11:40 Uhr‑‑ per Telefax an ihre Prozessbevollmächtigte.

  4. Die Prozessbevollmächtigte legte am 19.07.2018 namens der Klägerin gegen den Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018 Einspruch ein. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Da der angefochtene Bescheid am 15.06.2018 im Wege des Zentralversands zur Post gegeben worden sei, gelte er nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) als am 18.06.2018 (Montag) bekanntgegeben. Somit habe die Klägerin die Einspruchsfrist nicht gewahrt.

  5. Das FG gab der hiergegen erhobenen Klage statt. Die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geregelte Zugangsvermutung finde im Streitfall keine Anwendung, weil an die Wohnadresse der Klägerin innerhalb der Dreitagesfrist regelmäßig nicht an allen Werktagen Post durch das vom FA beauftragte Postdienstleistungsunternehmen ausgeliefert worden sei. Da das FA einen früheren Zugang nicht habe nachweisen können, sei der Einkommensteuerbescheid der Klägerin erst am 19.06.2018 bekanntgegeben worden. Die Einspruchsfrist sei deshalb erst am 19.07.2018 abgelaufen, der am selben Tag eingelegte Einspruch mithin fristgerecht. In der Sache bestehe zwischen den Beteiligten kein Streit. Folglich sei der angefochtene Einkommensteuerbescheid entsprechend dem Klagebegehren der Klägerin zu ändern.

  6. Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.

  7. Es beantragt,
    das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

  8. Die Klägerin beantragt,
    die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Klägerin die Einspruchsfrist gewahrt hat und der angefochtene Einkommensteuerbescheid daher geändert werden konnte.

  2. 1. Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Gemäß § 122 Abs. 2 AO kann ein schriftlicher Verwaltungsakt auch durch Übermittlung durch die Post bekanntgegeben werden. Post im Sinne dieser Vorschrift ist nicht nur die Deutsche Post AG, sondern auch ein (sonstiger) privater Postdienstleister (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 14.06.2018 - III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 14 und BFH-Beschluss vom 18.04.2013 - X B 47/12, Rz 17, m.w.N.). Der Verwaltungsakt gilt in diesem Fall gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in der im Streitjahr geltenden Fassung bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

  3. 2. Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen (BFH-Urteil vom 14.06.2018 - III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 9). Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische ‑‑Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post‑‑ ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom 03.05.2001 - III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365). Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (BFH-Urteile vom 11.07.2017 - IX R 41/15, Rz 18 und vom 14.06.2018 - III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 9, jeweils m.w.N.).

  4. 3. Bei Heranziehung dieser Grundsätze ist das FG zu Unrecht davon ausgegangen, dass die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geregelte Zugangsvermutung nicht anwendbar ist.

  5. a) Die Vorinstanz ist zunächst in nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der angefochtene Einkommensteuerbescheid vorliegend am 15.06.2018 zur Post gegeben wurde.

  6. aa) § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO greift nur dann ein, wenn feststeht, wann der mit einfachem Brief übersandte Verwaltungsakt tatsächlich zur Post aufgegeben worden ist (BFH-Beschlüsse vom 26.02.2020 - VIII B 56/19, Rz 8 und vom 26.02.2021 - X B 108/20, Rz 9, jeweils m.w.N.; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.11.2023 - 6 C 3.22, BVerwGE 181, 83, Rz 22, zu § 41 Abs. 2 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes). Lässt sich das Datum der Aufgabe zur Post nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststellen, ist § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht anwendbar (BFH-Urteil vom 09.12.2009 - II R 52/07, BFH/NV 2010, 824, unter II.2.b aa).

  7. bb) Das FG hat vorliegend den Sachverhalt bezüglich der Aufgabe des Einkommensteuerbescheids zur Post im Rahmen des Möglichen aufgeklärt und ist dabei zu der tatrichterlichen Überzeugung gelangt, dass der maschinell gedruckte und kuvertierte Bescheid dem Postdienstleister X AG am 15.06.2018 durch das Technische Finanzamt C übergeben wurde. Diese Überzeugungsbildung der Vorinstanz ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden; sie wurde von den Beteiligten auch nicht angegriffen. Der Senat sieht insoweit von weiteren Ausführungen ab.

  8. b) Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr daher grundsätzlich als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post ‑‑hier am 18.06.2018‑‑ bekanntgegeben.

  9. c) Die Klägerin hat die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht erschüttert.

  10. Ihr Vorbringen, sie habe den Briefkasten am Dienstag, den 19.06.2018, unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach A geleert und darin den Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018 vorgefunden, ist nicht geeignet, Zweifel an dessen Zugang innerhalb der Dreitagesfrist zu begründen. Denn nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) wurde im Wohnviertel der Klägerin zwar an Samstagen keine, an Montagen jedoch durchaus Post von der X AG zugestellt. Aufgrund dessen erscheint vorliegend eine Zustellung des streitigen Steuerbescheids am letzten Tag der Dreitagesfrist, Montag, dem 18.06.2018, ‑‑und damit anders als in dem BFH-Beschluss vom 23.02.2018 - X B 61/17, Rz 11 zugrunde liegenden Sachverhalt‑‑ zumindest möglich. Diese Möglichkeit konnte die Klägerin aus eigener Anschauung auch nicht ausschließen, da sie wegen ihrer Ortsabwesenheit nicht wissen konnte, ob der Einkommensteuerbescheid, den sie am Vormittag des 19.06.2018 in ihrem Briefkasten vorfand, (erst) am selben Tag oder (bereits) am Vortag dort eingelegt worden war.

  11. Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin ihre Mutter und eine Freundin während ihrer Abwesenheit mit der Leerung ihres Briefkastens betraut hatte. Auch hieraus kann nicht geschlossen werden, dass der streitgegenständliche Einkommensteuerbescheid erst am 19.06.2018 und nicht bereits am 18.06.2018 in ihren Briefkasten eingelegt wurde. Hierfür hätte es vielmehr des Vortrags bedurft, die mit der Leerung betrauten Personen hätten den Briefkasten der Klägerin nach der am 18.06.2018 erfolgten Zustellrunde geleert, ohne darin den Einkommensteuerbescheid vorzufinden. Ein solches, Zweifel begründendes Geschehen hat die Klägerin allerdings weder behauptet, noch wurde es vom FG festgestellt. Vielmehr ist (auch) die Vorinstanz davon ausgegangen, dass die Klägerin den Zugang des Einkommensteuerbescheids am 18.06.2018 nicht substantiiert bestritten hat. Vor diesem Hintergrund reichen allein die dargelegten und vom FG festgestellten Zweifel an der Zuverlässigkeit der X AG im Allgemeinen nicht aus, um die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO zu erschüttern.

  12. d) Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geregelte Zugangsvermutung sei im Streitfall ‑‑ohne dass es auf ein substantiiertes Bestreiten des Zugangs durch die Klägerin ankäme‑‑ grundsätzlich nicht anwendbar.

  13. Der Zugangsvermutung steht nicht entgegen, dass die X AG im Streitfall an dem innerhalb der Dreitagesfrist liegenden Samstag (16.06.2018) keine Zustellungen in dem Wohnviertel der Klägerin vorgenommen hat. Ebenso wenig steht ihr entgegen, dass der Postdienstleister (hier die X AG) Postgut regelmäßig nur an fünf von sechs Werktagen ausgeliefert und damit nicht das für einen Universaldienst im Bereich der Briefleistungen geltende Qualitätsmerkmal einer werktäglichen Zustellung nach § 2 Nr. 5 der Post-Universaldienstleistungsverordnung vom 15.12.1999 (BGBl I 1999, 2418), zuletzt geändert am 07.07.2005 (BGBl I 2005, 1970), in der bis zum 18.07.2024 geltenden Fassung (aufgehoben durch Art. 43 des Postrechtsmodernisierungsgesetzes vom 15.07.2024, BGBl. 2024 I Nr. 236 und ersetzt durch § 19 des Postgesetzes vom 15.07.2024, BGBl. 2024 I Nr. 236) erfüllt hat (ebenso FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.04.2023 - 16 K 16130/22, EFG 2023, 1191; FG Münster, Urteil vom 11.05.2023 - 8 K 520/22 E, EFG 2023, 1044, Rz 38, Revision anhängig unter VI R 6/23; anderer Ansicht Süß/Müller, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2023, 428; dieselben DStR 2023, 1478).

  14. An dieser Beurteilung ändert sich auch dann nichts, wenn ‑‑wie vorliegend‑‑ planmäßig an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Postzustellung erfolgt, weil der zustellfreie Tag an einen Sonntag grenzt (ebenso von Beckerath in Gosch, FGO § 47 Rz 82; anderer Ansicht BeckOK AO/Füssenich, 31. Ed. 01.01.2025, AO § 122 Rz 182). Die Zustellung innerhalb der Dreitagesfrist wird hierdurch zwar etwas weniger wahrscheinlich, ist aber gleichwohl möglich. Die zeitlich beschränkte Zustellung berührt deshalb nicht die generelle Anwendbarkeit der Zugangsvermutung, sondern ist nach Maßgabe der vorgenannten Grundsätze allenfalls geeignet, diese, wenn der spätere Zugang des Verwaltungsakts substantiiert vorgetragen wird, zu erschüttern.

  15. 4. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache entscheiden.

  16. Der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr gilt ‑‑wie ausgeführt‑‑ als am 18.06.2018 bekanntgegeben. Die einmonatige Einspruchsfrist begann demnach am 19.06.2018 (§ 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ‑‑BGB‑‑) und endete mit Ablauf des 18.07.2018 (§ 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 188 Abs. 2 Alternative 1 BGB). Da der Einspruch erst am 19.07.2018 beim FA einging, hat das FA diesen zutreffend als unzulässig verworfen. Die Klage ist danach abzuweisen.

  17. 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

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