ECLI:DE:BFH:2025:U.140125.VIIR21.22.0
BFH VII. Senat
FGO § 47 Abs 1, FGO § 118 Abs 2, AO § 163 Abs 1, BGB § 133, BranntwMonG § 143 Abs 1, BranntwMonG § 143 Abs 2, BranntwMonG § 152 Abs 1 Nr 4, BrStV § 50, EGV 3199/93 Anh III
vorgehend FG Düsseldorf, 18. Mai 2022, Az: 4 K 892/21 VBr
Leitsätze
NV: Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes rechtsschutzgewährender Auslegung ist eine eindeutige Erklärung eines rechtskundigen Prozessvertreters nicht abweichend von ihrem tatsächlichen Inhalt auszulegen.
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 18.05.2022 - 4 K 892/21 VBr insoweit aufgehoben, als der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 16.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 verpflichtet wurde, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Auch insoweit wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betrieb in zwei Werken Raffinerien, in denen sie im Wege der Rohöldestillation Kraftstoffe herstellte. In einer Raffinerie stellte sie auch petrochemische Grundstoffe her und betrieb eine Methanolsynthese. Dabei fiel als Nebenprodukt sogenanntes Luttermethanol in flüssiger Form an. Dieses bestand zu mehr als 90 % aus Methanol, außerdem aus Ethanol und Wasser. Der Ethanolgehalt in dem Luttermethanol betrug im Kalenderjahr 2017 zwischen 2,86 und 5,95 Volumenprozent (% vol).
Die Aufnahme von Methanol wirkt im menschlichen Körper giftig. Die Einnahme von etwa 80 bis 90 ml Luttermethanol würde bei einem erwachsenen Menschen mit durchschnittlichem Körpergewicht tödlich wirken. Die Klägerin lieferte das Luttermethanol im Jahr 2017 an Zwischenhändler.
Am 15.05.2017 stellte die Klägerin eine Prüfanfrage, ob Luttermethanol von ihr ohne branntweinsteuerrechtliche Einschränkungen vertrieben werden könne. Nach Untersuchung einer Probe teilte der Beklagte und Revisionskläger (Hauptzollamt ‑‑HZA‑‑) ihr mit Schreiben vom 06.11.2017 mit, dass Luttermethanol wegen eines Ethanolgehalts von 3 % vol gemäß § 130 Abs. 4 des Gesetzes über das Branntweinmonopol in der im Streitfall geltenden Fassung (BranntwMonG) der Branntweinsteuer unterliege.
Auf entsprechenden Antrag erweiterte das HZA alsdann für diejenigen Anlagenteile, die der Gewinnung des Luttermethanols dienten, mit Verfügung vom 15.12.2017 für die Zukunft eine der Klägerin schon zuvor erteilte Erlaubnis zum Betrieb eines Steuerlagers für Erzeugnisse. Zuvor hatte sich die Erlaubnis räumlich nur auf andere Anlagenteile erstreckt. Für das von der Klägerin im Zeitraum vom 02.01.2017 bis zum 11.12.2017 (Streitzeitraum) hergestellte Luttermethanol ging das HZA hingegen davon aus, dass hierfür keine Erlaubnis bestanden habe und die Steuer nach § 143 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 BranntwMonG entstanden sei. Es setzte mit Bescheid vom 20.06.2018 Branntweinsteuer in Höhe von … € gegenüber der Klägerin fest.
Dagegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 28.06.2018 Einspruch ein und beantragte zudem, die Branntweinsteuer nach § 163 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) aus Billigkeitsgründen abweichend festzusetzen. Mit Bescheid vom 16.04.2019 lehnte das HZA die abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen für den Streitzeitraum ab. Auch hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 26.04.2019 Einspruch ein. Aufgrund eines weiteren Verwaltungsverfahrens setzte das HZA für den Folgezeitraum vom 15.12.2017 bis zum 06.08.2019 mit Bescheid vom 07.10.2020 die hierfür zuvor festgesetzte Branntweinsteuer aus Billigkeitsgründen auf 0 € herab.
Mit Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021, die postalisch an demselben Tag versandt wurde und am 23.03.2021 beim Bevollmächtigten der Klägerin einging, wies das HZA sowohl den Einspruch der Klägerin gegen den Steuerbescheid vom 20.06.2018 als auch gegen den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 als unbegründet zurück.
Die Klägerin erhob am 13.04.2021, vertreten durch eine Partnerschaft von Rechtsanwälten als Prozessbevollmächtigte, Klage beim Finanzgericht (FG). In ihrem Klageantrag begehrte sie, "den Branntweinsteuerbescheid vom 20. Juni 2018 ... (Steuerbescheid) in der Form der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 ... (Einspruchsentscheidung) aufzuheben". Weiter war ausgeführt: "Den angegriffenen Steuerbescheid fügen wir in Kopie als Anlage K1 und die Einspruchsentscheidung als Anlage K2 bei." Der Klageschrift waren als Anlage der Steuerbescheid vom 20.06.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 beigefügt. Mit am 11.06.2021 beim FG eingegangenem Schriftsatz vom 10.06.2021 erklärte die Klägerin, sie stelle "klar, dass sich die Klage hilfsweise auch gegen den in der Einspruchsentscheidung abgelehnten Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen vom 16. April 2019 erstreckt". In der mündlichen Verhandlung vor dem FG beantragte die Klägerin, den Steuerbescheid vom 20.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 aufzuheben, hilfsweise das HZA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 16.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 zu verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Mit Urteil vom 18.05.2022 - 4 K 892/21 VBr verpflichtete das FG das HZA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 16.04.2019, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Im Übrigen wies es die Klage ab und legte die Kosten des Verfahrens der Klägerin zu zwei Dritteln und dem HZA zu einem Drittel auf.
Das FG erklärte, die Klage sei hinsichtlich des Hauptantrags, der den Steuerbescheid vom 20.06.2018 betraf, unbegründet. Die Branntweinsteuer sei nach § 143 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BranntwMonG entstanden und es liege keine Steuerbefreiung gemäß § 152 Abs. 1 Nr. 4 BranntwMonG vor, da das Luttermethanol nicht mit einem zugelassenen Vergällungsmittel vergällt worden sei. Der Steuerbescheid vom 20.06.2018 ist im Revisionsverfahren zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig.
Hinsichtlich des Hilfsantrags, der den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 betraf, urteilte das FG, die Klage sei zulässig. Zwar habe die Klägerin erst mit dem Schriftsatz vom 10.06.2021 klargestellt, dass sie sich mit ihrer Klage auch gegen die Ablehnung einer abweichenden Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen mit dem Bescheid vom 16.04.2019 wende. Es handle sich aber um eine zulässige Klageänderung im Sinne des § 67 der Finanzgerichtsordnung (FGO), da die Klagefrist gemäß § 47 Abs. 1 Satz 2 FGO im Ergebnis eingehalten worden sei. Denn die Klageschrift vom 13.04.2021 sei so auszulegen, dass die Klägerin bereits bei Klageerhebung auch den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 angefochten habe. Die spätere Einschränkung dieses Klagebegehrens als Hilfsantrag mit Schriftsatz vom 10.06.2021 sei daher unschädlich. Eine solche rechtsschutzgewährende Auslegung der Klageschrift sei gerechtfertigt, weil die Klägerin ihrer Klageschrift die Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 beigefügt habe, die sich sowohl auf den Steuerbescheid vom 20.06.2018 als auch auf den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 bezogen habe. Dagegen spreche nicht, dass die Klägerin mit der Klageschrift lediglich den Steuerbescheid vom 20.06.2018, nicht aber den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 als Anlage übersandt habe. Die Übersendung der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 lasse die Annahme zu, dass ihre Prozesserklärung unter Berücksichtigung der ausdrücklich formulierten Klageanträge nicht eindeutig gewesen sei. Zudem ergäben sich aus der ‑‑ebenfalls zu berücksichtigenden‑‑ Einspruchsakte keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Klägerin ihr Begehren bezüglich ihres Billigkeitsantrags nicht mehr habe weiterverfolgen wollen.
Der Hilfsantrag sei auch begründet. Eine Besteuerung der Herstellung des Luttermethanols gemäß § 143 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BranntwMonG laufe den Wertungen des Gesetzgebers derart zuwider, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheine. An die Herstellung des Luttermethanols habe sich eine gewerbliche Verwendung angeschlossen, die steuerfrei gewesen wäre, wenn das Erzeugnis mit einem zugelassenen Vergällungsmittel vergällt worden wäre und Verwendungserlaubnisse erteilt worden wären (§ 152 Abs. 1 Nr. 4, § 153 Abs. 1 Satz 1 BranntwMonG). Dabei wäre eine Vergällung des Luttermethanols wegen der toxischen Wirkungen des Methanols überflüssig gewesen. Zudem sei Methanol als Vergällungsmittel unionsrechtlich anerkannt nach dem Anhang zur Verordnung (EG) Nr. 3199/93 der Kommission vom 22.11.1993 über die gegenseitige Anerkennung der Verfahren zur vollständigen Denaturierung von Alkohol für Zwecke der Verbrauchsteuerbefreiung ‑‑VO 3199/93‑‑ (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1993, Nr. L 288, 12). Dies habe auch das HZA in seinem Bescheid vom 07.10.2020 nachvollziehbar dargelegt. Daran sei das HZA nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) gebunden.
Mit seiner Revision wendet sich das HZA gegen das erstinstanzliche Urteil, soweit es unterlegen gewesen ist. Es rügt die Verletzung materiellen Rechts sowie Verfahrensmängel.
Nach seiner Auffassung hätte über den Hilfsantrag nicht durch Sach-, sondern durch Prozessurteil entschieden werden müssen. Denn die Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 sei nicht innerhalb der Klagefrist des § 47 Abs. 1 Satz 2 FGO erhoben worden, sondern erstmalig durch den Schriftsatz vom 10.06.2021. Die Klageschrift vom 13.04.2021 sei eindeutig formuliert gewesen und habe sich lediglich gegen den Steuerbescheid vom 20.06.2018 gerichtet. In der Sache habe das FG zur Begründung der Billigkeitsentscheidung fehlerhaft auf den Bescheid vom 07.10.2020 abgestellt, der den Folgezeitraum ab dem 15.12.2017 betroffen habe. In diesem Folgezeitraum habe die Klägerin ‑‑anders als im Streitzeitraum‑‑ erfolglos alles in ihrer Macht Stehende getan, um eine Steuerentstehung zu vermeiden.
Das HZA beantragt,
die Vorentscheidung insoweit aufzuheben, als das HZA unter Aufhebung des Bescheids vom 16.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 verpflichtet wurde, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden, und die Klage auch insoweit abzuweisen,
hilfsweise die Kosten des Verfahrens der Klägerin zu drei Vierteln und dem HZA nur zu einem Viertel aufzuerlegen.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Auffassung ist die Vorentscheidung rechtmäßig. Zutreffend sei das FG davon ausgegangen, dass mit der Klageschrift vom 13.04.2021 über den Wortlaut des Klageantrags hinaus nicht nur der Steuerbescheid vom 20.06.2018, sondern auch der Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021, fristgerecht angegriffen worden sei. Der ursprünglich missverständlich formulierte Klageantrag habe rechtsschutzgewährend entsprechend der Interessenlage der Klägerin ausgelegt werden müssen. Dafür spreche die enge verfahrensrechtliche Verzahnung von Steuerbescheid und Billigkeitsentscheidung, die auf eine materiell gleichartige Rechtsfolge gerichtet gewesen sei. Dies habe sich in einer einheitlichen Einspruchsentscheidung ausgedrückt, die der Klageschrift als Anlage beigefügt gewesen sei. Auch in der Sache sei das FG zutreffend davon ausgegangen, dass eine Besteuerung der Herstellung des Luttermethanols gemäß § 143 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BranntwMonG unbillig sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet und die Vorentscheidung im beantragten Umfang aufzuheben. Die Vorentscheidung verletzt insoweit Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Klage ist, auch soweit ihr in der ersten Instanz stattgegeben wurde, abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO).
1. Das FG hat zu Unrecht über den Hilfsantrag der Klägerin durch Sachurteil statt durch Prozessurteil entschieden. Dies stellt einen Verfahrensmangel dar (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 21.01.1999 - IV R 40/98, BFHE 188, 523, BStBl II 1999, 563, unter 2. der Gründe; BFH-Beschluss vom 27.06.2014 - IV B 12/14, Rz 2). Die Klage ist hinsichtlich des Hilfsantrags als unzulässig abzuweisen. Denn die Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 ist nicht innerhalb der Klagefrist erhoben worden.
a) Der am 11.06.2021 beim FG eingegangene Schriftsatz vom 10.06.2021, mit dem die Klägerin erklärt hat, sie stelle "klar, dass sich die Klage hilfsweise auch gegen den in der Einspruchsentscheidung abgelehnten Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen vom 16. April 2019 erstreckt", ist außerhalb der Klagefrist eingegangen.
aa) Die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage beträgt gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf, in den Fällen des § 45 FGO und in den Fällen, in denen ein außergerichtlicher Rechtsbehelf nicht gegeben ist, mit der Bekanntgabe des Verwaltungsakts. Dies gilt gemäß § 47 Abs. 1 Satz 2 FGO für die Verpflichtungsklage sinngemäß, wenn der Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts abgelehnt worden ist.
bb) Da im Streitfall die Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 an demselben Tag zur Post aufgegeben worden ist und gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in der im Streitfall geltenden Fassung (Drei-Tages-Fiktion) als am Donnerstag, 25.03.2021 zugestellt galt, lief die einmonatige Klagefrist gemäß § 54 Abs. 2 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und 2 der Zivilprozessordnung und § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) am Montag, dem 26.04.2021 ab. Bei Eingang des Schriftsatzes am 11.06.2021 war die Frist bereits abgelaufen.
cc) Die Klägerin hat keinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO gestellt. Wiedereinsetzungsgründe sind auch nicht ersichtlich.
b) Mit ihrem Klageschriftsatz vom 13.04.2021 hat die Klägerin nur gegen den Steuerbescheid vom 20.06.2018, nicht aber gegen den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 Klage erhoben. Die vom FG vorgenommene Auslegung dieses Schriftsatzes überschreitet die Grenzeneiner zulässigen Auslegung.
aa) In der Auslegung prozessualer Willenserklärungen, die im erstinstanzlichen Klageverfahren abgegeben worden sind, ist das Revisionsgericht frei; es ist insoweit nicht gemäß § 118 Abs. 2 FGO an die Auslegung durch die Vorinstanz gebunden (BFH-Beschlüsse vom 17.09.2014 - VI B 75/14, Rz 4 und vom 08.10.2012 - I B 76, 77/12, Rz 6).
bb) Prozessuale Rechtsbehelfe sind nach ständiger Rechtsprechung des BFH in entsprechender Anwendung des § 133 BGB wie sonstige Willenserklärungen auszulegen, wenn eine eindeutige und zweifelsfreie Erklärung fehlt. Nur wenn die Prozesserklärung klar und eindeutig ist und offensichtlich dem bekundeten Willen des Beteiligten entspricht, besteht grundsätzlich kein Raum für eine gegenteilige Auslegung (Senatsbeschluss vom 07.10.2009 - VII B 26/09, BFH/NV 2010, 441, unter II.2.a der Gründe). Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen. Die Auslegung einer Prozesserklärung darf aber nicht zur Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für den sich in der (verkörperten) Erklärung selbst keine Anhaltspunkte mehr finden lassen (BFH-Beschluss vom 07.11.2007 - I B 104/07, BFH/NV 2008, 799, unter II.1.b der Gründe). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung (BFH-Beschlüsse vom 17.09.2014 - VI B 75/14, Rz 5 und vom 07.11.2007 - I B 104/07, BFH/NV 2008, 799, unter II.1.b der Gründe). Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden. Im Zweifel ist das gewollt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (BFH-Beschluss vom 09.09.2014 - VIII B 133/13, Rz 10; BFH-Urteil vom 29.04.2009 - X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, unter II.1. der Gründe). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften nach Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung (BFH-Urteile vom 18.06.2024 - VIII R 16/21, Rz 25 und vom 18.09.2014 - VI R 80/13, BFHE 247, 111, BStBl II 2015, 115, Rz 19; Senatsurteil vom 08.01.1991 - VII R 61/88, BFH/NV 1991, 795, unter II.1.b der Gründe; BFH-Beschlüsse vom 17.09.2014 - VI B 75/14, Rz 5; vom 09.09.2014 - VIII B 133/13, Rz 10 und vom 08.06.2004 - XI B 46/02, BFH/NV 2004, 1417, unter II.1.b der Gründe).
Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes rechtsschutzgewährender Auslegung ist eine eindeutige Erklärung eines rechtskundigen Prozessvertreters allerdings nicht abweichend von ihrem tatsächlichen Inhalt auszulegen (BFH-Beschlüsse vom 02.12.2020 - V B 25/20 (AdV), BFHE 271, 48, BStBl II 2021, 263, Rz 25 und vom 19.07.2010 - I B 207/09, Rz 8).
cc) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der Klageschriftsatz vom 13.04.2021 nicht, wie das FG angenommen hat, einer Auslegung in der Weise zugänglich, dass die Klägerin hiermit auch eine Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 erhoben hat. Vielmehr enthielt der Klageschriftsatz, der durch eine Partnerschaft von Rechtsanwälten als Prozessbevollmächtigte verfasst worden war, eine eindeutige Erklärung.
(1) Mit ihrem in dem Klageschriftsatz formulierten Klageantrag begehrte die Klägerin, "den Branntweinsteuerbescheid vom 20. Juni 2018 ... (Steuerbescheid) in der Form der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 ... (Einspruchsentscheidung) aufzuheben". Weiter war ausgeführt: "Den angegriffenen Steuerbescheid fügen wir in Kopie als Anlage K1 und die Einspruchsentscheidung als Anlage K2 bei." Diese Formulierungen beziehen sich eindeutig nur auf den Steuerbescheid vom 20.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021, nicht aber auf den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019. Sprachlich hat die Klägerin wiederholt nur einen Bescheid ("den Branntweinsteuerbescheid"; "den angegriffenen Steuerbescheid") angefochten, nicht zwei Bescheide. Damit liegt eine zweifelsfreie Erklärung vor. Nach der zitierten Rechtsprechung kann eine solche Erklärung, die von einem rechtskundigen Prozessvertreter abgegeben worden ist, nicht abweichend von ihrem tatsächlichen Inhalt ausgelegt werden.
(2) Nichts anderes ergibt sich aus den dem Klageschriftsatz vom 13.04.2021 beigefügten Anlagen. Grundsätzlich sind bei der Auslegung von Prozesserklärungen auch Unterlagen zu berücksichtigen, auf die ausdrücklich Bezug genommen wird und die als Anlage beigefügt sind (BFH-Beschlüsse vom 30.12.2022 - XI B 61/22, Rz 11 und vom 05.02.2014 - XI B 73/13, Rz 12). Der Klageschrift war als Anlage jedoch nur der Steuerbescheid vom 20.06.2018, nicht aber der Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 beigefügt. Der Umstand, dass sich die Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021, welche ebenfalls der Klageschrift als Anlage beigefügt war, sowohl auf den Steuerbescheid vom 20.06.2018 als auch auf den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 bezog, rechtfertigt entgegen der Auffassung des FG nicht die Annahme, dass die Klägerin mit dem Klageschriftsatz vom 13.04.2021 auch den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 anfechten wollte. Denn allein um den Steuerbescheid vom 20.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 zu bezeichnen und dies durch beigefügte Anlagen zu verdeutlichen, musste die Klägerin die Einspruchsentscheidung beifügen. Die Annahme, dass sie hiermit auch einen weiteren Bescheid habe anfechten wollen, der nicht als Anlage beigefügt war, auf den sich die Einspruchsentscheidung aber ebenfalls bezog, übersteigt den Umfang der zulässigen Auslegung. Hierdurch würde einer eindeutigen Erklärung ein Inhalt beigemessen, für den es in der Erklärung keine Anhaltspunkte gibt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Verfahren über die Steuerfestsetzung ‑‑eine gebundene Entscheidung‑‑ und dem Verfahren über die abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO ‑‑eine Ermessensentscheidung‑‑ um unterschiedliche Verwaltungsverfahren handelt (BFH-Urteil vom 21.07.2016 - X R 11/14, BFHE 254, 497, BStBl II 2017, 22, Rz 16), weswegen eine in dem einen Verfahren abgegebene Erklärung nicht auf das andere Verfahren übertragen werden kann.
(3) Eine abweichende Auslegung ist auch nicht aufgrund der Erklärung der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 10.06.2021 geboten. Diese vermag dem Klageschriftsatz vom 13.04.2021 nicht eine über ihren eindeutigen Wortlaut hinausgehende Erklärung des Inhalts beizumessen, dass mit der Klageerhebung auch der Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 angefochten werden sollte. Zwar kann nach der zitierten Rechtsprechung eine spätere Erklärung zur Auslegung eines Klageschriftsatzes berücksichtigt werden. Da im Streitfall jedoch der Klageschriftsatz eindeutig und zweifelsfrei formuliert war, kommt eine davon abweichende Auslegung aufgrund einer späteren Erklärung nach der zitierten Rechtsprechung schon im Ausgangspunkt nicht in Betracht, und zwar auch dann nicht, wenn das Ergebnis der Auslegung vernünftig wäre und der recht verstandenen Interessenlage der Klägerin entsprechen würde.
2. Abgesehen hiervon hat das FG die Klage mit ihrem Hilfsantrag zu Unrecht als begründet angesehen. Der Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 ist rechtmäßig.
Gemäß § 163 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Bei der Entscheidung nach § 163 AO handelt es sich um eine Ermessensentscheidung der Behörde, die im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 102 Satz 1 FGO nur eingeschränkt überprüfbar ist (Senatsurteil vom 30.06.2015 - VII R 30/14, BFHE 250, 34, BStBl II 2022, 246, Rz 27).
a) Die Unbilligkeit kann in der Sache liegen oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Situation des Steuerpflichtigen haben. Im Streitfall kommt ‑‑schon aufgrund der Zahlung des streitigen Steuerbetrags durch die Klägerin‑‑ allein eine sachliche Unbilligkeit in Betracht. Sachlich unbillig ist die Festsetzung einer Steuer, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint. Das ist der Fall, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage ‑‑wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte‑‑ im Sinne der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (Senatsurteil vom 27.02.2019 - VII R 34/17, BFHE 264, 563, Rz 18; BFH-Urteil vom 20.09.2012 - IV R 29/10, BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505, Rz 21, m.w.N.).
b) Das FG hat zutreffend erkannt, dass im Streitfall die Branntweinsteuer nach § 143 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BranntwMonG entstanden war und keine Steuerbefreiung gemäß § 152 Abs. 1 Nr. 4 BranntwMonG vorlag, weil das Luttermethanol nicht mit einem zugelassenen Vergällungs- beziehungsweise Denaturierungsmittel vergällt worden ist. Die Klägerin hat keines der in § 50 der Branntweinsteuerverordnung zugelassenen Vergällungsmittel verwendet. Auch unionsrechtlich ist eine Vergällung mit Methanol nach der VO 3199/93 in der Bundesrepublik Deutschland nicht zugelassen. Soweit die Verwendung von Methanol, worauf das FG hingewiesen hat, unter III. des Anhangs der VO 3199/93 genannt ist, gilt dies nur für Griechenland, und auch nur als zusätzliches Denaturierungsverfahren für Alkohol minderer Qualität mit einem Alkoholgehalt von mindestens 93 % vol und höchstens 96 % vol, sowie unter Verwendung weiterer Vergällungsmittel. Zudem fehlt es auch deshalb an einer Denaturierung des Ethanols, weil dies eine absichtliche Zugabe bestimmter Stoffe voraussetzt, um den Alkohol toxisch zu machen (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Evroetil vom 21.12.2011 - C-503/10, EU:C:2011:872, Rz 60). Im Streitfall fiel das Luttermethanol aber nur als Nebenprodukt der Methanolsynthese an. Daher begehrt die Klägerin im Kern die Anwendung einer Befreiungsvorschrift auf einen Sachverhalt, den der Gesetzgeber gerade nicht von der Branntweinsteuer befreien wollte. Dies kann durch § 163 AO nicht erreicht werden.
c) Nichts anderes ergibt sich unter Berücksichtigung des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Denn die Frage nach der materiell-rechtlichen Richtigkeit der Steuerfestsetzung ist nach der Senatsrechtsprechung grundsätzlich nicht im Billigkeitsverfahren zu klären (Senatsurteil vom 27.02.2019 - VII R 34/17, BFHE 264, 563, Rz 28).
3. Über den Hilfsantrag des HZA, der sich auf die Kostenquote bezieht, muss vor diesem Hintergrund nicht entschieden werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.