Zum Hauptinhalt springen Zur Hauptnavigation springen Zum Footer springen
Zur Hauptnavigation springen Zum Footer springen

Beschluss vom 01. August 2017, VII R 16/15

Saldierung nach § 16 UStG im Insolvenzverfahren

ECLI:DE:BFH:2017:B.010817.VIIR16.15.0

BFH VII. Senat

AO § 124 Abs 2, AO § 168, UStG § 16 Abs 2, InsO § 96 Abs 1 Nr 3, InsO § 55 Abs 4, UStG VZ 2011 , EGRL 112/2006 Art 90 Abs 1, GG

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 29. Mai 2015, Az: 9 K 76/14

Leitsätze

1. NV: Vorauszahlungsbescheide für Umsatzsteuer verlieren ihre Wirksamkeit mit Erlass des Jahressteuerbescheids und erledigen sich "auf andere Weise" im Sinne von § 124 Abs. 2 der Abgabenordnung.

2. NV: Aufgrund der Saldierung nach § 16 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) besteht die dann maßgebliche Jahressteuer nur insoweit, als der berechneten Steuer keine abziehbaren Vorsteuerbeträge gegenüberstehen.

3. NV: Der Saldierung nach § 16 UStG steht nicht § 96 Abs. 1 Nr. 3 der Insolvenzordnung entgegen. Die Saldierung ist keine Aufrechnung im Sinne dieser Vorschrift.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 29. Mai 2015 - 9 K 76/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Das Amtsgericht bestellte den Kläger und Revisionskläger (Kläger) aufgrund eines Antrags vom selben Tag mit Beschluss vom xx.08.2011 zum vorläufigen Insolvenzverwalter der Firma … (Schuldnerin) mit der Maßgabe, Verfügungen der Schuldnerin seien nur mit Zustimmung des Klägers wirksam. Mit Beschluss vom xx.11.2011 eröffnete das Gericht das Insolvenzverfahren und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter.

  2. Der Kläger reichte wegen Vorsteuerkorrekturen gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) Umsatzsteuervoranmeldungen für die Voranmeldungszeiträume September 2011 und Oktober 2011 ein, die zu einer Zahllast führten.

  3. Zudem gab der Kläger ‑‑unter einer anderen Steuernummer‑‑ Umsatzsteuervoranmeldungen für die Zeiträume September 2011 und Oktober 2011 für Umsätze nach dem xx.08.2011 ab. Diese Umsätze stammten aus Lieferungen und Leistungen, die die Schuldnerin nach Insolvenzantragstellung und vor -eröffnung von anderen Unternehmen bezogen und bezahlt hatte. Hieraus ergab sich ein Guthaben zugunsten der Schuldnerin in Höhe von … € für September 2011 und … € für Oktober 2011.

  4. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) verrechnete Umsatzsteuerschulden der Schuldnerin aus dem Zeitraum 1. Januar 2011 bis xx.08.2011 mit einem Teilbetrag des Guthabens aus den Monaten September und Oktober 2011 in Höhe von insgesamt … € und meldete den verbleibenden Betrag in Höhe von … € zur Insolvenztabelle an.

  5. Der Kläger widersprach der Verrechnung. Das FA erließ daraufhin den hier streitigen Abrechnungsbescheid vom 15. Februar 2012.

  6. Der Kläger reichte am 29. Mai 2013 eine Jahresumsatzsteuererklärung 2011 für den Zeitraum Januar bis Oktober 2011 ein mit einer ermittelten Jahresumsatzsteuer in Höhe von … €. Das FA stimmte der Erklärung am 14. November 2013 zu.

  7. Einspruch und Klage gegen den Abrechnungsbescheid blieben erfolglos. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist abgedruckt in der Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis 2015, 1452.

  8. Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, die in anfechtbarer Weise entstandenen Vorsteuerbeträge dürften nicht in die Saldierung gemäß § 16 Abs. 2 UStG einfließen. Die Saldierungsmöglichkeit sei aufgrund anfechtbarer Rechtshandlungen i.S. der §§ 129 ff. der Insolvenzordnung (InsO) entstanden und benachteilige die Insolvenzgläubiger. Es handele sich um einen Fall der inkongruenten Deckung gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO, weil die Finanzverwaltung im Verhältnis zur Schuldnerin keinen Anspruch auf den Bezug von Lieferungen und sonstigen Leistungen Dritter an die Schuldnerin und eine dadurch entstandene Saldierungsmöglichkeit gehabt habe. Selbst wenn eine inkongruente Deckung nicht bestehe, liege jedenfalls ein Fall der kongruenten Deckung gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO vor, weil die hier maßgeblichen Leistungen und Lieferungen nach dem Insolvenzeröffnungsantrag bezogen worden seien und das FA die Insolvenzantragstellung der Schuldnerin gekannt habe. Unter Berücksichtigung zweier Senatsurteile vom 2. November 2010 VII R 6/10 (BFHE 231, 488, BStBl II 2011, 394) und VII R 62/10 (BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439) sei eine Verrechnung der Insolvenzforderungen des Finanzamts mit einem Vorsteuervergütungsanspruch unzulässig, sofern bei der Erbringung der Leistung die Voraussetzungen des § 130 InsO oder des § 131 InsO vorgelegen hätten. Die gleichen Grundsätze müssten auch für eine Saldierung gelten, weil die Insolvenzanfechtungsregeln der §§ 129 ff. InsO zu den Grundpfeilern des Insolvenzrechts und insbesondere der insolvenzrechtlichen Gläubigergleichbehandlung gehörten. Im Übrigen verstoße eine Saldierung gegen die Vorschrift des § 55 Abs. 4 InsO, die in verfassungswidriger Weise die mit Zustimmung des Insolvenzverwalters in der Zeit zwischen Anordnung der Sicherungsmaßnahmen und Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandenen Verbindlichkeiten ‑‑und nicht auch Ansprüche‑‑ den Masseverbindlichkeiten zuweise.

  9. Das FA trägt vor, ein Anspruch auf Erstattung der Umsatzsteuer bestehe nicht, weil der Erstattungsanspruch aufgrund Saldierung gemäß § 16 Abs. 2 UStG erloschen sei. Eine Saldierung sei mit Zustimmung zur Umsatzsteuerjahreserklärung erfolgt. Im Rahmen der Saldierung gelte das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs. 1 InsO nicht. Eine Saldierung sei auch keine anfechtbare Rechtshandlung gemäß §§ 129 ff. InsO.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

  2. Das FA hat zu Recht mit Abrechnungsbescheid vom 15. Februar 2012 festgestellt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Erstattung des Umsatzsteuerguthabens in Höhe von … € für September 2011 und in Höhe von … € für Oktober 2011 an die Insolvenzmasse, da gegen diese Beträge mit Rückständen aus Umsatzsteuer als Insolvenzverbindlichkeiten aufgerechnet worden sei.

  3. 1. Nach der Senatsrechtsprechung ist der Jahressteuerbescheid vom Zeitpunkt seines Ergehens alleinige Grundlage für die Verwirklichung des Anspruchs auf die mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entstandene Steuer sowie für die Einbehaltung der als Vorauszahlung für den Veranlagungszeitraum entrichteten bzw. für die Vergütung der die positiven Umsatzsteuern übersteigenden (Vorsteuer-)Beträge (Senatsurteil vom 25. Juli 2012 VII R 44/10, BFHE 238, 302, BStBl II 2013, 33). Auch wenn aus insolvenzverfahrensrechtlichen Gründen eine (positive) Jahressteuerfestsetzung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr ergehen kann, sondern lediglich die Steuer zu berechnen und im Insolvenzverfahren zur Tabelle anzumelden ist (§ 251 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑ i.V.m. § 87 InsO), verlieren Vorauszahlungsbescheide ihre Wirksamkeit und erledigen sich i.S. des § 124 Abs. 2 AO "auf andere Weise". Die in § 16 Abs. 2 UStG angeordnete Rechtsfolge verwirklicht sich in diesem Fall gleichsam automatisch, weil die für den Inhalt des Steuerschuldverhältnisses jetzt maßgebliche Jahressteuer nur insoweit besteht, als der berechneten Steuer (§ 16 Abs. 1 UStG) keine abziehbaren Vorsteuerbeträge gegenüberstehen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 21. November 2013 V R 21/12, BFHE 244, 70, BStBl II 2016, 74, und Senatsurteil in BFHE 238, 302, BStBl II 2013, 33). Die vom FA in dem angefochtenen Abrechnungsbescheid festgestellte Rechtmäßigkeit der Aufrechnung ist nach dieser Rechtsprechung gegenstandslos, weil die betreffenden Beträge in die Jahressteuer eingegangen und saldiert worden sind.

  4. 2. Der Saldierung nach § 16 UStG steht nicht § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegen (BFH-Urteile in BFHE 238, 302, BStBl II 2013, 33, und vom 24. November 2011 V R 13/11, BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298). Nach der gefestigten Rechtsprechung des BFH ist die Saldierung keine Aufrechnung im Sinne dieser Vorschrift (BFH-Urteile in BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298, und in BFHE 238, 302, BStBl II 2013, 33).

  5. 3. Die Steuerberechnung nach §§ 16 ff. UStG ist auch keine anfechtbare Rechtshandlung i.S. der §§ 129 ff. InsO (vgl. BFH-Urteil in BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298; ebenso Senatsurteil in BFHE 238, 302, BStBl II 2013, 33).

  6. 4. Es bestehen keine Zweifel an der Verfassungs- und Unionsrechtmäßigkeit des § 55 Abs. 4 InsO.

  7. Wie bereits der XI. Senat mit Urteil vom 1. März 2016 XI R 9/15 (BFH/NV 2016, 1310) entschieden hat, bewirkt die Regelung des § 55 Abs. 4 InsO keine verfassungswidrige Privilegierung des Fiskus, sondern beseitigt eine vom Gesetzgeber gesehene Benachteiligung. Die Wirkungen des § 55 Abs. 4 InsO verstoßen auch nicht gegen Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie (vgl. BFH-Urteil vom 24. September 2014 V R 48/13, BFHE 247, 460, BStBl II 2015, 506; ebenso BFH-Beschluss vom 11. März 2014 V B 61/13, BFH/NV 2014, 920).

  8. 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Seite drucken