ECLI:DE:BFH:2025:B.280425.VB30.23.0
BFH V. Senat
AO § 60a Abs 1, AO § 60a Abs 5, FGO § 105 Abs 5, FGO § 119 Nr 6, FGO § 115 Abs 2 Nr 3
vorgehend Thüringer Finanzgericht , 21. März 2023, Az: 2 K 360/20
Leitsätze
NV: Ein Urteil eines Finanzgerichts (FG) ist im Sinne des § 119 Nr. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht mit Gründen versehen, wenn das FG für eine ihm obliegende tatsächliche Würdigung von der Begründungserleichterung des § 105 Abs. 5 FGO Gebrauch macht.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Thüringer Finanzgerichts vom 21.03.2023 - 2 K 360/20 aufgehoben.
Die Sache wird an das Thüringer Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Zwischen dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) und dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) steht die Rechtmäßigkeit einer Aufhebung der Feststellung der formellen Satzungsmäßigkeit nach § 60a der Abgabenordnung (AO) in Streit.
Zweck des Klägers, eines im Jahr 2014 gegründeten eingetragenen Vereins, war ausweislich seiner Satzung "[…]".
Mit Bescheid vom 22.10.2014 stellte das seinerzeit für die Besteuerung des Klägers zuständige Finanzamt A (FA A) gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AO die Einhaltung der satzungsmäßigen Voraussetzungen nach den §§ 51, 59, 60 und 61 AO fest.
Am 15.01.2016 erließ das FA A einen Freistellungsbescheid für 2014, in dem es feststellte, dass der Kläger nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes von der Körperschaftsteuer und nach § 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit sei, weil er ausschließlich und unmittelbar steuerbegünstigten gemeinnützigen Zwecken im Sinne der §§ 51 ff. AO diene.
Mit Bescheid vom 09.12.2019 hob das FA A unter Berufung auf § 60a Abs. 4 AO den Feststellungsbescheid vom 22.10.2014 mit Wirkung ab dem 01.01.2015 auf, da der Kläger wirtschaftlich geprägt und nicht vordergründig im Sinne der Satzung tätig sei. Auch sei der begünstigte Empfänger des Auflösungsvermögens mit dessen Löschung weggefallen.
Der hiergegen nach erfolglosem außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) insoweit statt, als es den Bescheid vom 09.12.2019 aufhob, soweit er den Zeitraum 2015 bis 2019 umfasse. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen, ohne die Revision zum Bundesfinanzhof (BFH) zuzulassen. Soweit der Zeitraum 2015 bis 2019 betroffen sei, sei § 60a Abs. 4 AO mangels Satzungsänderung nicht anwendbar. Soweit der darauf folgende Zeitraum betroffen sei, könne die Aufhebung des FA A auf den durch Art. 27 Nr. 14 und Art. 50 Abs. 1 des Jahressteuergesetzes 2020 vom 21.12.2020 (BGBl I 2020, 3096) eingeführten und am 29.12.2020 in Kraft getretenen § 60a Abs. 6 AO gestützt werden. Dem FA A hätten "zum Zeitpunkt der erstmaligen Körperschaftsteuerveranlagung im Jahr 2019" Erkenntnisse zur tatsächlichen Geschäftsführung des Klägers vorgelegen, die bei dem FA A Zweifel an der Einhaltung der satzungsmäßigen Voraussetzungen begründeten. Das FA A habe im Aufhebungsbescheid substantiiert seine Zweifel an der satzungsmäßigen tatsächlichen Geschäftsführung des Klägers dargelegt. Die finanzbehördlichen Erkenntnisse über die tatsächliche Geschäftsführung müssten so substantiiert sein, dass sie einen eindeutigen Rückschluss auf eine Verletzung der materiellen Gemeinnützigkeit zuließen. Hieran bestünden keine Zweifel. Es sei auf die Ausführungen des FA A in der Einspruchsentscheidung zu verweisen. Es sei keine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Zweifel durchzuführen. Bereits bei Vorliegen von Erkenntnissen zur tatsächlichen Geschäftsführung sei der Feststellungsbescheid aufzuheben. Die weitere Prüfung, ob diese Erkenntnisse zutreffend seien, sei bei der Veranlagung vorzunehmen. § 60a Abs. 6 Satz 2 AO sei aber erstmals ab dem Veranlagungszeitraum 2020 anwendbar.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers, mit der er insbesondere geltend macht, für die Übernahme der Erkenntnisse des FA A durch das FG fehle es an einer Begründung. Die Floskel "hieran habe der Senat keine Zweifel" sei nicht ausreichend.
Während des Beschwerdeverfahrens wurde infolge einer Neuorganisation der Finanzbehörden das FA für die Besteuerung des Klägers zuständig.
Entscheidungsgründe
II.
Das FA ist mit Wirkung zum 01.09.2024 durch die Sechzehnte Verordnung zur Änderung der Thüringer Finanzamts-Zuständigkeitsverordnung vom 30.07.2024 (Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen 2024, 518) aufgrund eines Organisationsaktes der Finanzverwaltung in die Zuständigkeit und hierdurch im Wege des gesetzlichen Beteiligtenwechsels in die Beteiligtenstellung des FA A eingetreten (vgl. BFH-Urteile vom 27.11.2019 - I R 40/19 (I R 14/16), BFHE 268, 1, BStBl II 2024, 670; vom 14.03.2024 - V R 51/20, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2024, 1092, Rz 11; BFH-Beschlüsse vom 31.08.2016 - I B 146/15, BFH/NV 2016, 1756; vom 02.04.2014 - I B 21/13, BFH/NV 2014, 1216).
III.
Die Beschwerde, über die der Senat nach Teil A, V. Senat Nr. 2 i.V.m. Teil A, Ergänzende Regelungen, Nr. III.5 Buchst. a des Geschäftsverteilungsplans des BFH zu entscheiden hat, ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das Urteil des FG leidet an einem vom Kläger zu Recht gerügten Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), auf dem es als beruhend anzusehen ist, da es nicht mit Gründen versehen ist (§ 119 Nr. 6 FGO).
1. Nach § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO muss ein finanzgerichtliches Urteil die Entscheidungsgründe enthalten. Fehlt es hieran, ist das Urteil als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen (§ 119 Nr. 6 FGO).
Eine Entscheidung ist nach der Rechtsprechung des BFH nicht mit Gründen versehen, wenn sie nicht erkennen lässt, welche tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen für sie maßgeblich waren (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 02.07.2021 - V B 34/20, BFH/NV 2021, 1523, Rz 8). Der Begründungszwang bezweckt, die Prozessbeteiligten über die das Urteil tragenden Erkenntnisse und Überlegungen des Gerichts zu unterrichten. Dabei muss das FG zwar nicht auf alle Einzelheiten des Sachverhalts und auf jede von den Beteiligten angestellte Erwägung näher eingehen. Ein Urteil enthält aber keine hinreichenden Entscheidungsgründe, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergeht oder einen bestimmten Sachverhaltskomplex überhaupt nicht berücksichtigt (Senatsbeschluss vom 02.07.2021 - V B 34/20, BFH/NV 2021, 1523, Rz 9).
Ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 119 Nr. 6 FGO ist somit anzunehmen, wenn dem Kläger in Bezug auf einen wesentlichen Streitpunkt die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Dagegen liegt kein derartiger Verfahrensmangel vor, wenn noch zu erkennen ist, welche Feststellungen und Überlegungen für das Gericht maßgeblich waren (Senatsbeschluss vom 02.07.2021 - V B 34/20, BFH/NV 2021, 1523, Rz 10). Aus dieser Abgrenzung folgt, dass ein Urteil im Sinne des § 119 Nr. 6 FGO nicht mit Gründen versehen ist, wenn das FG für eine ihm obliegende tatsächliche Würdigung von der Begründungserleichterung des § 105 Abs. 5 FGO Gebrauch macht.
2. Ungeachtet der Frage, ob ‑‑wie es das FG angenommen hat‑‑ § 60a Abs. 6 AO lediglich "substantiierte" Erkenntnisse erfordert (so Seer in Tipke/Kruse, § 60a AO Rz 13; Unger in Gosch, AO § 60a Rz 51; ähnlich Klein/Gersch, AO, 18. Aufl., § 60a Rz 18 "auf hinreichende Tatsachen gestützte Erkenntnisse") oder ob vielmehr eine "umfassende Beweiserhebung" durchzuführen ist (so BeckOK AO/Erdbrügger, 30 Ed. 01.10.2024, AO § 60a Rz 67) sowie ‑‑was das FG verneint hat‑‑ ob und in welchem Umfang das Vorliegen von Erkenntnissen einer gerichtlichen Überprüfung im Verfahren nach § 60a AO unterliegt, ist es jedenfalls nicht möglich, die Entscheidung des FG hinsichtlich des Vorliegens substantiierter Erkenntnisse auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.
a) Zwar hat das FG hinsichtlich der Erkenntnisse über tatsächliche Geschäftsführung auf die Ausführungen des FA in dessen Einspruchsentscheidung verwiesen und damit ‑‑jedenfalls der Sache nach‑‑ von § 105 Abs. 5 FGO Gebrauch gemacht, wonach das Gericht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen kann, soweit es der Begründung des Verwaltungsakts oder der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt. Jedoch genügt die Verweisung auf die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf oder auf die Begründung des Verwaltungsakts nur dann dem Begründungsgebot, wenn sich unter Berücksichtigung der in Bezug genommenen Entscheidung erkennen lässt, aus welchen Überlegungen heraus das Gericht einen entscheidungserheblichen Punkt in einem bestimmten Sinne beurteilt hat (BFH-Beschluss vom 01.08.2002 - I B 162/01, BFH/NV 2003, 172, unter II.2.).
b) Das FA hat in seiner Einspruchsentscheidung vom 05.06.2020 ‑‑als "Erkenntnisse" in Bezug auf die tatsächliche Geschäftsführung des Klägers‑‑ unter anderem angeführt, der Kläger sei nach den vorgelegten Gewinnermittlungen und Tätigkeitsberichten wirtschaftlich geprägt, in der Anlage zum Tätigkeitsbericht der Vorstände seien satzungsfremde Tätigkeiten aufgeführt und die jährliche Mitgliederversammlung sei nicht durchgeführt worden. Jedoch hat das FG zugleich ‑‑unter Bezugnahme auf das zu § 60a Abs. 4 AO und damit allein zur formellen Satzungsmäßigkeit ergangene Senatsurteil vom 23.07.2020 - V R 40/18 (BFHE 270, 43, BStBl II 2021, 3)‑‑ darauf abgestellt, dass solche "Erkenntnisse" so substantiiert sein müssen, dass sie einen eindeutigen Rückschluss auf eine Verletzung der materiellen Gemeinnützigkeit zulassen. Wie das FG aber zu der ‑‑ihm als Tatsacheninstanz obliegenden‑‑ Würdigung gelangt ist, dass die von dem FA in dem Aufhebungsbescheid und der Einspruchsentscheidung aufgeführten Umstände "substantiiert" dargelegt worden seien, ergibt sich aus seinem Urteil nicht. Vielmehr beschränkt sich das FG insoweit auf die Floskel, dass es hieran "keinen Zweifel" habe. Damit ist ‑‑ebenso wie wenn trotz einer gerichtlichen Beweisaufnahme nach § 105 Abs. 5 FGO von einer Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen wird (zu dem dann vorliegenden absoluten Revisionsgrund des § 119 Nr. 6 FGO s. z.B. BFH-Urteil vom 20.05.1994 - VI R 10/94, BFHE 174, 391, BStBl II 1994, 707; BFH-Beschlüsse vom 04.07.2006 - X B 135/05, BFH/NV 2006, 1797, unter 1.c; vom 28.08.2014 - X B 182/13, BFH/NV 2014, 1899, Rz 11)‑‑ weder für die Verfahrensbeteiligten ersichtlich noch in einem Rechtsmittelverfahren überprüfbar, ob die Würdigung des FG auf zumindest nachvollziehbaren Überlegungen beruht.
3. Der Senat sieht die sich aus § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO ergebenden Darlegungsanforderungen zu § 119 Nr. 6 FGO als noch erfüllt an, da der Kläger immerhin rügt, dass es für die Übernahme der Erkenntnisse des FA ‑‑und damit die Verneinung von Zweifeln‑‑ durch das FG an einer Begründung fehle und es nach ständiger Rechtsprechung auf die ‑‑konkret‑‑ geltend gemachten Zulassungsgründe nicht ankommt, wenn sich aus den Darlegungen zumindest ergibt, dass ein Verfahrensmangel vorliegt (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 28.06.2023 - VII B 50/22, BFH/NV 2023, 1099, Rz 29; vom 01.06.2011 - IV B 33/10, BFH/NV 2011, 1888, Rz 19). Dies ist nach den Verhältnissen des Streitfalls in Bezug auf das Vorliegen von Erkenntnissen im Sinne des § 60a Abs. 5 Satz 1 AO als noch gewahrt anzusehen.
4. Der Senat hält es insbesondere im Hinblick auf die Anwendung von § 119 Nr. 6 FGO für sachgerecht, das angefochtene Urteil gemäß § 116 Abs. 6 FGO insgesamt aufzuheben und die Sache in diesem Umfang zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
a) Hierbei wird das FG zu berücksichtigen haben, dass § 60a Abs. 6 Satz 2 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 AO lediglich dann eine Aufhebung bestehender Feststellungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AO ermöglicht, wenn Erkenntnisse, dass die tatsächliche Geschäftsführung gegen die satzungsmäßigen Voraussetzungen verstößt, bis zum Zeitpunkt des Erlasses des erstmaligen Körperschaftsteuerbescheids oder Freistellungsbescheids vorliegen, wobei im Streitfall aber bereits am 15.01.2016 ein die Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer 2014 betreffender Freistellungsbescheid ergangen ist.
b) Im Hinblick darauf, dass das FA im Aufhebungsbescheid vom 09.12.2019 davon ausgegangen ist, dass der begünstigte Empfänger des Auflösungsvermögens weggefallen sei, wird das FG auch zu entscheiden haben, ob somit keine satzungsmäßige Vermögensbindung im Sinne des § 61 Abs. 1 AO (mehr) vorliegt und ob es sich insoweit um eine Änderung der für die Feststellung erheblichen Verhältnisse handelt ‑‑mit der Folge, dass die Feststellung nach § 60a Abs. 4 AO mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben ist‑‑ oder ob dies einen materiellen Fehler im Feststellungsbescheid über die Satzungsmäßigkeit darstellt, der mit Wirkung ab dem Kalenderjahr beseitigt werden kann, das auf die Bekanntgabe der Aufhebung der Feststellung folgt (§ 60a Abs. 5 Satz 1 AO).
c) Im Übrigen kommt es nicht in Betracht, die Teilbarkeit eines Streitgegenstandes mit einem zeitlichen Anwendungsbereich einer Korrekturvorschrift zu begründen. Daher wird sich das FG auch mit der Frage zu befassen haben, ob Regelungsgegenstand eines Bescheids über die Aufhebung eines Feststellungsbescheids im Sinne des § 60a Abs. 1 AO ‑‑ebenso wie bei dem Feststellungsbescheid selbst‑‑ eine bestimmte Satzung ist (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 26.08.2021 - V R 11/20, BFHE 273, 415, BStBl II 2022, 202, Rz 37) und deshalb im Streitfall bezogen auf diese Satzung als in diesem Sinne unteilbarem Streitgegenstand die Voraussetzungen und Rechtsfolgen von Änderungs- oder Aufhebungsvorschriften zu prüfen sind.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.