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Beschluss vom 05. Mai 2025, V B 20/24

Unzulässige Selbstentscheidung über ein Ablehnungsgesuch

ECLI:DE:BFH:2025:B.050525.VB20.24.0

BFH V. Senat

GG Art 101 Abs 1 S 2, FGO § 51 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 6, FGO § 91a, ZPO § 45 Abs 1, ZPO § 43, ZPO § 47

vorgehend FG Münster, 11. März 2024, Az: 15 K 1945/21 U

Leitsätze

NV: Die Bescheidung eines Ablehnungsgesuchs durch einen Spruchkörper, der hierfür nicht der gesetzliche Richter war, schlägt auf die Endentscheidung durch (Anschluss an Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 16.10.2019 - X B 99/19, BFHE 266, 494, BStBl II 2020, 375).

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 11.03.2024 - 15 K 1945/21 U aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Münster zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

  1. Die vor dem Finanzgericht (FG) nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertretene Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, begehrte die Berücksichtigung von Vorsteuerbeträgen, die der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) im angefochtenen Umsatzsteuerbescheid 2018 versagt hatte.

  2. Die Senatsvorsitzende des FG verfügte am 16.01.2024 die Ladung zur mündlichen Verhandlung auf den 20.02.2024, wobei sie ein persönliches Erscheinen der Beteiligten nicht anordnete. Auf die Anträge der Beteiligten, "per Videokonferenz" an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, gestattete das FG dem FA mit Beschluss vom 14.02.2024 und der Klägerin mit Beschluss vom 15.02.2024, sich während der mündlichen Verhandlung am 20.02.2024 in eigenen Räumlichkeiten aufzuhalten und dort "im Rahmen der Videokonferenz" Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Senatsvorsitzende des FG verlegte den Termin aufgrund eines Terminverlegungsantrags der Klägerin vom 15.02.2024, die eine Verhandlungsunfähigkeit ihrer alleinigen Geschäftsführerin zum Termin am 20.02.2024 nachgewiesen hatte, zunächst auf den 12.03.2024 und aufgrund eines weiteren Terminverlegungsantrags der Klägerin vom 23.02.2024, mit dem die Geschäftsführerin der Klägerin eine Terminkollision mit einem anderen Gerichtstermin glaubhaft gemacht hatte, auf den 11.03.2024, 13:00 Uhr. Einen erneuten Terminverlegungsantrag der Klägerin lehnte die Senatsvorsitzende des FG mangels Glaubhaftmachung des behaupteten Verlegungsgrundes am 26.02.2024 ab. Das FG gestattete mit Beschluss vom 29.02.2024 dem FA auf dessen Antrag, sich während der mündlichen Verhandlung am 11.03.2024 in eigenen Räumlichkeiten aufzuhalten und dort "im Rahmen der Videokonferenz" Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Den ebenfalls auf Teilnahme "per Videokonferenz" an der mündlichen Verhandlung vom 11.03.2024 gestellten Antrag der Klägerin vom 06.03.2024 lehnte das FG mit Beschluss vom 08.03.2024 ohne Begründung ab.

  3. Am 11.03.2024 ging um 09:28 Uhr ein Schriftsatz der Klägerin beim FG ein, mit dem sie die Senatsvorsitzende des FG und die beiden Beisitzer des FG wegen der Besorgnis der Befangenheit ablehnte. Sie begründete ihren Antrag mit der von diesen Richtern beschlossenen Ablehnung ihres Antrags auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung "per Videokonferenz" durch den Senat des FG, die nicht begründet gewesen sei. Die abgelehnten Richter hätten auf einem persönlichen Erscheinen der Klägerin, "die mehr als 200 Kilometer entfernt wohn[e]", bestanden, obwohl dem früheren Antrag der Klägerin auf Teilnahme "per Videokonferenz" an der im Februar anberaumten mündlichen Verhandlung stattgegeben worden sei. Zudem sei dem Antrag des FA auf Teilnahme "per Videokonferenz" an der auf den 11.03.2024 anberaumten mündlichen Verhandlung stattgegeben worden. Diese Ungleichbehandlung reiche zur Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit.

  4. Die Geschäftsführerin der Klägerin erschien in der um 13:08 Uhr eröffneten mündlichen Verhandlung vor dem FG und stellte einen Klageantrag. Das FG wies die Klage mit am 11.03.2024 um 15:30 Uhr verkündeten Urteil ab. In den Entscheidungsgründen des Urteils wies das FG unter Mitwirkung der abgelehnten Richter das Ablehnungsgesuch der Klägerin wegen Rechtsmissbrauchs als unzulässig und ‑‑hilfsweise‑‑ weil die Klägerin sich durch ihre Geschäftsführerin in der mündlichen Verhandlung rügelos eingelassen, verhandelt und einen Antrag gestellt habe, ab.

  5. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat verfahrensfehlerhaft (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) über das Ablehnungsgesuch der Klägerin unter Mitwirkung der abgelehnten Richter entschieden.

  2. 1. Die von der Klägerin erhobene Rüge, das FG habe ihren Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑) verletzt, indem die abgelehnten Richter entgegen § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 45 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) selbst über den Ablehnungsantrag entschieden haben, greift durch. Die Bescheidung des Ablehnungsgesuchs durch einen Spruchkörper, der hierfür nicht der gesetzliche Richter war, schlägt auf die Endentscheidung durch.

  3. a) Im Streitfall verstieß zunächst die Behandlung des Ablehnungsgesuchs als solches gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

  4. aa) Zwar ist es nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) im Allgemeinen unzulässig, pauschal einen ganzen Spruchkörper abzulehnen, weil ein Ablehnungsgesuch sich grundsätzlich auf bestimmte Richter beziehen muss. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Mitglieder eines Spruchkörpers im Hinblick auf konkrete Anhaltspunkte in einer Kollegialentscheidung abgelehnt werden, weil der Betroffene wegen des Beratungsgeheimnisses nicht wissen kann, welcher Richter die Entscheidung mitgetragen hat. In solchen Fällen liegt ein Missbrauch des Ablehnungsrechts nur dann vor, wenn das Gesuch gar nicht oder ausschließlich mit Umständen begründet wird, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen können. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Ablehnungsantrag sich bereits ohne jedes Eingehen auf den Verfahrensgegenstand als unzulässig dargestellt hätte. Ist hingegen ein ‑‑wenn auch nur geringfügiges‑‑ Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet eine Verwerfung des Ablehnungsantrags als unzulässig aus. Denn der abgelehnte Richter darf sich über eine bloße formale Prüfung des Ablehnungsantrags hinaus nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe entgegen § 45 Abs. 1 ZPO, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zum Richter in eigener Sache machen (BFH-Beschluss vom 16.10.2019 - X B 99/19, BFHE 266, 494, BStBl II 2020, 375, Rz 14 und 15).

  5. bb) Vorliegend waren die Voraussetzungen, unter denen die abgelehnten Richter ausnahmsweise entgegen der Anordnung in § 45 Abs. 1 ZPO selbst über das Ablehnungsgesuch entscheiden dürfen, nicht erfüllt. Die Klägerin hatte ihr Ablehnungsgesuch nicht ausschließlich mit Umständen begründet, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ‑‑das heißt ohne jede Befassung mit der Sache als solcher‑‑ eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen können. Die Klägerin führte in ihrem Ablehnungsgesuch insbesondere an, dass eine Ungleichbehandlung vorliege, da nicht erkennbar sei, aus welchen Gründen das FG ihren Antrag abgelehnt habe, während hingegen dem Antrag des FA und ihrem auf eine frühere mündliche Verhandlung bezogenen Antrag stattgegeben worden sei.

  6. Das Fehlen der Voraussetzungen, unter denen die abgelehnten Richter ausnahmsweise selbst über das Ablehnungsgesuch entscheiden dürfen, ergibt sich zudem auch daraus, dass die abgelehnten Richter sich im angefochtenen Urteil inhaltlich mit den von der Klägerin vorgetragenen Ablehnungsgründen auseinandergesetzt haben. Eine solche inhaltliche Auseinandersetzung steht aber nicht ihnen, sondern gemäß § 45 Abs. 1 ZPO allein ihren Vertretern zu. Das inhaltliche Eingehen auf die Ablehnungsgründe war auch nicht etwa objektiv entbehrlich, da die von der Klägerin vorgetragenen Gründe ‑‑ohne dass es an dieser Stelle darauf ankommt, ob sie im Streitfall tatsächlich durchgreifen könnten‑‑ beim Vorliegen eines entsprechenden Sachverhalts im Prinzip geeignet sein könnten, im Einzelfall eine Besorgnis der Befangenheit darzulegen (BFH-Beschluss vom 16.10.2019 - X B 99/19, BFHE 266, 494, BStBl II 2020, 375, Rz 16 und 17).

  7. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass sich das Ablehnungsgesuch vorliegend zwar auf die Sachbehandlung zu einer Ermessensentscheidung des Gerichts nach § 91a Abs. 1 FGO (i.d.F. des Gesetzes zur Intensivierung von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25.04.2013, BGBl I 2013, 935 ‑‑a.F.‑‑; aufgehoben mit Wirkung vom 19.07.2024 durch Art. 12 Nr. 7 des Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom 15.07.2024, BGBl. 2024 I Nr. 237) bezog, bei der der zu treffende Beschluss nach § 91a Abs. 3 Satz 2 FGO a.F. unanfechtbar und demgemäß nach § 113 Abs. 2 Satz 1 FGO nicht zu begründen war, dass dies aber nicht ausschließt, bei einem späteren Rechtsmittel gegen die abschließende Entscheidung nachzuprüfen, ob das FG durch eine rechtsfehlerhafte Ermessensentscheidung Verfahrensrechte des Beteiligten verletzt hat (vgl. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 91a FGO Rz 29; Brandis in Tipke/Kruse, § 91a FGO Rz 11; Holle in Gosch, FGO § 91a Rz 44, Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 91a Rz 18). Handelt es sich somit um eine Ermessensentscheidung, erfordert die ‑‑vom hierfür zuständigen Richter zu treffende‑‑ Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch folglich auch ein Eingehen auf die hierzu führenden Gründe des entscheidenden Richters.

  8. b) Der Besetzungsmangel der Entscheidung über den Ablehnungsantrag schlägt auf die Endentscheidung durch.

  9. In Fällen unzulässiger Selbstentscheidung über ein Ablehnungsgesuch ist stets davon auszugehen, dass auch die dem Ablehnungsgesuch folgenden Sachentscheidungen mit dem Makel des Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter behaftet sind. Denn auch wenn die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs nach der maßgeblichen Prozessordnung (hier: § 128 Abs. 2 FGO) unanfechtbar ist und bisher nicht feststeht, dass bei einem der abgelehnten Richter tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit gegeben war, folgt aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zugleich, dass niemand vor einem Richter stehen muss, über dessen Ablehnung unter Verstoß gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters entschieden worden ist. Dies gilt auch für den Fall, dass ein ganzer Spruchkörper abgelehnt wird, die vorstehend unter II.1.a aa genannten Voraussetzungen aber nicht erfüllt sind, ohne dass dem frühere Rechtsprechung des BFH entgegensteht (BFH-Beschluss vom 16.10.2019 - X B 99/19, BFHE 266, 494, BStBl II 2020, 375, Rz 19 bis 23).

  10. 2. Der Verfahrensfehler wird entgegen dem Urteil des FG nicht dadurch ausgeschlossen, dass das FG hilfsweise deshalb mit den abgelehnten Richtern in der Sache entschieden hat, weil sich die Geschäftsführerin der Klägerin in der mündlichen Verhandlung "nach der mündlichen Erläuterung der Ablehnung des Antrags (…) durch die Vorsitzende" rügelos eingelassen und einen Sachantrag gestellt hat. Denn hat ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub gestatten (§ 47 Abs. 1 ZPO), und kann ein Termin unter Mitwirkung des abgelehnten Richters nur dann fortgesetzt werden, wenn ein Richter während der Verhandlung abgelehnt wird und die Entscheidung über die Ablehnung eine Vertagung der Verhandlung erfordern würde (§ 47 Abs. 2 ZPO), geht der für seine Auffassung angeführte Hinweis des FG auf § 43 ZPO fehl, da der Bundesgerichtshof (BGH) bereits ausdrücklich entschieden hat, dass ein Verlust des Ablehnungsrechts nicht eintritt, wenn sich die Partei nach Ablehnung des Richters auf die weitere Verhandlung einlässt. Dies folgt aus dem Gesetzeswortlaut des § 43 ZPO, der ausdrücklich nur den Fall regelt, in dem die Partei trotz Kenntnis des Ablehnungsgrundes ‑‑zunächst und anders als hier‑‑ darauf verzichtet, diesen geltend zu machen und sich auf die weitere Verhandlung einlässt, sowie aus der gesetzgeberischen Intention und aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift (BGH-Beschluss vom 26.04.2016 - VIII ZB 47/15, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 2016, 887, Rz 14 bis 19).

  11. Die Klägerin, die den Verfahrensfehler hinreichend im Sinne des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt hat (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 09.07.2024 - X B 81/23, BFH/NV 2024, 1190, Rz 7), hat ihr Rügerecht auch nicht gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 ZPO verloren, da auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts nicht verzichtet werden kann (BFH-Beschluss vom 05.03.2018 - X B 44/17, BFH/NV 2018, 637, Rz 15).

  12. 3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Auf die übrigen geltend gemachten Zulassungsgründe kommt es danach nicht an.

  13. 4. Von einer weitergehenden Darstellung des Sachverhalts und einer weitergehenden Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.

  14. 5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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