ECLI:DE:BFH:2025:U.290425.VIR14.23.0
BFH VI. Senat
AO § 165 Abs 1 S 2 Nr 3, AO § 165 Abs 2, AO § 172ff, AO § 172, EStG § 4 Abs 9, EStG § 9 Abs 6, EStG VZ 2015 , EStG VZ 2016
vorgehend FG Köln, 12. Juli 2023, Az: 3 K 1356/22
Leitsätze
Ein nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) für vorläufig erklärter Steuerbescheid kann nicht gemäß § 165 Abs. 2 AO zu Lasten des Steuerpflichtigen geändert werden.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 12.07.2023 - 3 K 1356/22 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) studierte nach einer dreimonatigen Ausbildung zur Rettungssanitäterin in den Jahren 2011 bis 2016 Medizin. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (2015 und 2016) machte sie die Kosten hierfür als (vorab entstandene) Werbungskosten (Ausbildungskosten) nach § 9 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes in der in den Streitjahren geltenden Fassung (EStG) geltend.
Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung der Streitjahre erkannte der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Aufwendungen erklärungsgemäß, aber abweichend von der gesetzlichen Regelung in § 9 Abs. 6 EStG, als Werbungskosten für eine Zweitausbildung an. Die Bescheide ergingen hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung unter einem Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO). Im Vorläufigkeitsvermerk wurde ausgeführt, die Vorläufigkeitserklärung erfasse die Frage, ob § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG mit höherrangigem Recht vereinbar sei.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 19.11.2019 - 2 BvL 22/14, 2 BvL 23/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 27/14 (BVerfGE 152, 274) entschieden hatte, dass § 9 Abs. 6 EStG verfassungsgemäß sei, änderte das FA im Jahr 2021 die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 AO. Die Ausbildung der Klägerin zur Rettungssanitäterin habe nicht den vom Gesetz geforderten Mindestumfang von zwölf Monaten aufgewiesen. Deshalb sei das Medizinstudium als Erstausbildung anzusehen, so dass die Aufwendungen hierfür gemäß § 9 Abs. 6 EStG nicht als Werbungskosten abzugsfähig seien. Es handele sich um ‑‑im Streitfall steuerlich unerhebliche‑‑ Sonderausgaben im Sinne von § 10 EStG. Die ursprünglichen Steuerfestsetzungen der Streitjahre seien daher zu Lasten der Klägerin zu ändern.
Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2024, 909 veröffentlichten Gründen statt.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
Es beantragt,
das Urteil des FG Köln vom 12.07.2023 - 3 K 1356/22 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des FA ist zulässig, aber unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Nach § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a FGO muss die Revisionsbegründung die bestimmte Bezeichnung der Umstände enthalten, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt.
a) Dies erfordert, dass die Revisionsbegründung eindeutig erkennen lassen muss, welche Norm der Revisionskläger für verletzt hält. Ferner muss der Revisionskläger die Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art angeben, die nach seiner Auffassung das erstinstanzliche Urteil als unrichtig erscheinen lassen. Erforderlich ist damit eine zumindest kurze Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Urteils, aus der zu erkennen ist, dass der Revisionskläger die Begründung dieses Urteils und sein eigenes Vorbringen überprüft hat. Der Revisionskläger muss danach im Einzelnen und in Auseinandersetzung mit der Argumentation des FG dartun, welche Ausführungen der Vorinstanz aus welchen Gründen unrichtig sein sollen (z.B. Senatsbeschlüsse vom 29.03.2017 - VI R 83/14, Rz 7 und vom 12.05.2022 - VI R 37/20, Rz 16, jeweils m.w.N.). Dies gilt auch, wenn das FG die Revision ‑‑wie im Streitfall‑‑ wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen hat. Dieser Umstand macht eine Begründung der Revision nicht entbehrlich (Senatsbeschluss vom 12.05.2022 - VI R 37/20, Rz 17, m.w.N.).
b) Die Revisionsbegründung des FA entspricht den vorgenannten Anforderungen soeben noch. Denn das FA wendet sich mit seinem Vorbringen, wenn auch nur rudimentär begründet, gegen die Auffassung des FG, dass § 165 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO im Fall des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO generell nur eine Änderung zu Gunsten des Steuerpflichtigen erlaube und eine Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen ausscheide, falls die letztlich vom BVerfG bestätigte Rechtslage ‑‑wie vorliegend‑‑ vom FA bei Erlass des (vorläufigen) Erstbescheids nicht beachtet worden sei.
2. Die Revision ist jedoch unbegründet. Denn das FG hat zu Recht entschieden, dass das FA nicht gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 und 2 AO befugt war, die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre, in denen vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt wurden, zu ändern.
a) Soweit die Finanzbehörde eine Steuer vorläufig festgesetzt hat, kann sie die Festsetzung nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO aufheben oder ändern. Wenn die Ungewissheit beseitigt ist, ist eine vorläufige Steuerfestsetzung aufzuheben, zu ändern oder für endgültig zu erklären; eine ausgesetzte Steuerfestsetzung ist nachzuholen (§ 165 Abs. 2 Satz 2 AO). In den Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO muss eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO nur auf Antrag des Steuerpflichtigen für endgültig erklärt werden, wenn sie nicht aufzuheben oder zu ändern ist (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO).
b) § 165 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO erlaubt die Korrektur einer rechtswidrigen, nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufigen Steuerfestsetzung (weder zu Lasten noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen) nicht (s. bereits Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 30.11.2023 - IV R 13/21, Rz 35).
aa) Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 165 Abs. 2 Satz 1 AO sind die Finanzbehörden lediglich "soweit" zur Änderung befugt, als sie die Steuer vorläufig festgesetzt haben. Es handelt sich deshalb bei § 165 Abs. 2 AO nicht um eine allgemeine Korrekturvorschrift betreffend die Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung. Vielmehr erlaubt der Umstand, dass eine Steuer vorläufig festgesetzt wurde, Änderungen nur insoweit, als sie dem durch die Vorläufigkeitsvermerke gesteckten Änderungsrahmen entsprechen. Im Übrigen wird die Steuerfestsetzung bestandskräftig und kann nur nach den §§ 172 ff. AO geändert oder gemäß § 129 AO berichtigt werden.
bb) Ist die Festsetzung der Einkommensteuer ‑‑wie im Streitfall‑‑ gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO wegen eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht ‑‑hier Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben nur nach vorheriger zwölfmonatiger Erstausbildung (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG)‑‑ für vorläufig erklärt worden, kann die Einkommensteuerfestsetzung nur im Hinblick auf eine die Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht bestätigende Entscheidung des BVerfG aufgehoben oder geändert werden. Hierauf hat das FA im Rahmen der Vorläufigkeitsfestsetzung auch zutreffend hingewiesen.
Bestätigt das BVerfG die Vereinbarkeit des Steuergesetzes ‑‑hier § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG‑‑ mit höherrangigem Recht ‑‑hier Verfassungsrecht‑‑, besteht hingegen kein Korrekturbedarf; eine Änderung der Steuerfestsetzung ist mithin ausgeschlossen. Sie ist vielmehr ‑‑auf Antrag des Steuerpflichtigen‑‑ für endgültig zu erklären (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO). Die Frage nach der zutreffenden Anwendung des Steuergesetzes, welches mit höherrangigem Recht vereinbar ist, also die Frage nach der materiellen Richtigkeit der bisherigen Steuerfestsetzung, stellt sich insoweit nicht.
cc) Sinn und Zweck einer auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestützten, vorläufigen Steuerfestsetzung streiten ebenfalls dafür, dass deren Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen auch bei vorliegender Rechtswidrigkeit nicht auf § 165 Abs. 2 AO gestützt werden kann. Denn der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO dient der Vermeidung von Massenrechtsbehelfen und damit der Entlastung der Steuerpflichtigen, der Finanzbehörden und der Gerichte in Fällen von anhängigen Musterverfahren. Er ermöglicht dem FA damit eine vorläufige Steuerfestsetzung im Rahmen der geltenden Steuergesetze. Demgegenüber wird dem FA dadurch nicht die Möglichkeit eröffnet, die Steuer ‑‑im Hinblick auf eine mögliche Unvereinbarkeit des anzuwendenden Steuergesetzes mit höherrangigem Recht‑‑ abweichend von der geltenden Rechtslage vorläufig festzusetzen.
Ein Änderungsbedarf ergibt sich danach nicht, falls das BVerfG die Vereinbarkeit des von der Verwaltung vorläufig angewandten Steuergesetzes mit der Verfassung bestätigt. Nur falls das BVerfG das zu Lasten des Steuerpflichtigen wirkende Steuergesetz als nicht mit der Verfassung vereinbar erklärt, ist der vorläufige Bescheid zu seinen Gunsten zu ändern. Eine Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen sieht § 165 Abs. 2 Satz 1 und 2 Halbsatz 1 AO im Fall des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO folglich nicht vor (BFH-Urteil vom 30.11.2023 - IV R 13/21, Rz 37; FG Münster, Urteile vom 14.09.2006 - 3 K 4376/04 Erb und vom 14.09.2006 - 3 K 1881/05 Erb; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rz 46; Oellerich in Gosch, AO § 165 Rz 68; Frotscher in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 165 AO Rz 50; Hennigfeld, EFG 2024, 914).
c) Nach diesen Grundsätzen hat das FG im Streitfall zu Recht entschieden, dass das FA nicht berechtigt war, die erstmaligen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre, in denen die Werbungskostenüberschüsse der Klägerin zu Unrecht bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt wurden, gemäß § 165 Abs. 2 AO zu ändern.
Eine Berichtigung auf Grund § 129 AO beziehungsweise eine Änderung nach den §§ 172 ff. AO kommt, was zwischen den Beteiligten zu Recht nicht in Streit steht, ebenfalls nicht in Betracht.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.