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Urteil vom 18. März 2025, VII R 20/23

Anlaufhemmung bei der Festsetzungsfrist für Haftungsbescheide

ECLI:DE:BFH:2025:U.180325.VIIR20.23.0

BFH VII. Senat

AO § 33 Abs 1, AO § 34, AO § 35, AO § 69, AO § 71, AO § 130 Abs 2, AO § 170 Abs 2 S 1 Nr 1, AO § 191 Abs 1 S 1 Alt 1, AO § 191 Abs 3 S 1, FGO § 116 Abs 5 S 3, FGO § 120, FGO § 155 S 1, ZPO § 554 Abs 1 S 1

vorgehend FG Düsseldorf, 13. Juni 2022, Az: 8 K 45/19 H

Leitsätze

1. Aus der Verweisung in § 191 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) folgt, dass die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch bei der Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern anzuwenden ist, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetzlicher Pflichten (§§ 34, 35 AO) Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für einen Vertretenen abzugeben hat.

2. Nach Aufhebung eines vorangegangenen Haftungsbescheids bestehen Einschränkungen für den Neuerlass eines Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 2 AO beziehungsweise nach den Grundsätzen von Treu und Glauben insoweit nicht, als der aufgehobene und der erneute Haftungsbescheid nicht denselben Sachverhalt betreffen. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Inanspruchnahme auf einer anderen Haftungsnorm beruht.

3. Hat der Bundesfinanzhof die Revision nur wegen eines selbständig anfechtbaren Teils des Urteils des Finanzgerichts zugelassen, ist eine Anschlussrevision hinsichtlich eines anderen Teils unzulässig.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 13.06.2022 - 8 K 45/19 H insoweit aufgehoben, als der Haftungsbescheid vom 07.05.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.12.2018 bezüglich der Umsatzsteuer des Jahres 2006 aufgehoben worden ist.

Auch insoweit wird die Klage abgewiesen.

Die Anschlussrevision des Klägers wird als unzulässig verworfen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Der Kläger, Revisionsbeklagte und Anschlussrevisionskläger (Kläger) war in den Jahren 2006 bis 2011 Geschäftsführer der … GmbH i.L. (X-GmbH). Da die X-GmbH für diese Jahre keine Steuererklärungen abgegeben hatte, nahm der Beklagte, Revisionskläger und Anschlussrevisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) Vollschätzungen der Besteuerungsgrundlagen vor. Nach Durchführung einer Betriebsprüfung, die am 30.10.2014 angeordnet worden war und in deren Verlauf die X-GmbH Steuererklärungen abgegeben hatte, erließ das FA gegenüber der X-GmbH Änderungsbescheide zur Umsatzsteuer für 2006 bis 2011 und zur Körperschaftsteuer für 2010. Zuzüglich einer Umsatzsteuersondervorauszahlung für 2015 ergaben sich Rückstände aus Steuern, Solidaritätszuschlag und Zinsen in Höhe von insgesamt … €. Am xx.xx.2015 eröffnete das Amtsgericht Z (AG) über das Vermögen der X-GmbH das Insolvenzverfahren.

  2. Wegen der nicht rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärungen nahm das FA den Kläger mit Bescheid vom 13.04.2016 gemäß § 69 der Abgabenordnung (AO) für die vorbenannten Steuerrückstände der X-GmbH in Haftung. Haftungszeitraum war die Zeit vom 31.01.2008 bis zum 09.04.2015. Im Verlauf des dagegen geführten Einspruchsverfahrens nahm das FA am 30.10.2017 den Bescheid vom 13.04.2016 gemäß § 130 Abs. 1 AO zurück. Im Rücknahmebescheid war ausgeführt, der Haftungsbescheid werde gemäß § 130 Abs. 1 AO zurückgenommen und hiermit erledige sich der Einspruch vom 17.05.2016.

  3. Bereits durch Strafbefehl vom 09.01.2017, rechtskräftig seit dem 27.01.2017, setzte das AG gegen den Kläger eine Freiheitsstrafe von neun Monaten fest, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach den Feststellungen im Strafbefehl machte sich der Kläger durch die vorsätzlich verspätete Abgabe von Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2007 bis 2012 der Steuerhinterziehung schuldig.

  4. Mit Bescheid vom 07.05.2018 nahm das FA den Kläger erneut für die Steuerrückstände der X-GmbH in Haftung, beschränkt auf die Umsatzsteuer 2006 bis 2011 und die Körperschaftsteuer 2010 nebst Solidaritätszuschlag sowie erweitert um Zinsen gemäß § 235 AO zur Umsatzsteuer 2011. Die Haftungssumme betrug insgesamt … €. Der Bescheid war nunmehr auf § 71 AO gestützt. Wegen der Verwirklichung des Straftatbestands der Steuerhinterziehung nahm das FA auf den Strafbefehl des AG Bezug und machte sich dessen Feststellungen zu Eigen. Den dagegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 06.12.2018 als unbegründet zurück.

  5. Nachdem während des Klageverfahrens an die Gläubiger der X-GmbH eine Insolvenzquote von 21,87 % ausgezahlt worden war, widerrief das FA am 30.07.2020 den angefochtenen Bescheid gemäß § 131 Abs. 1 AO teilweise und setzte die Haftungssumme auf … € herab. Mit Bescheid vom 25.08.2021 nahm es diesen Widerrufsbescheid gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO teilweise zurück und erhöhte die Haftungssumme auf … €, da zuvor ein zu hoher Minderungsbetrag angesetzt worden war. Die nun abgezogene Quote entsprach 28,17 %. Die Haftungssumme für die Umsatzsteuer 2006 betrug danach … €.

  6. Das Finanzgericht (FG) hob den angefochtenen Haftungsbescheid bezüglich der Umsatzsteuer für 2006 auf und wies im Übrigen die Klage ab. Zur Begründung führte das FG aus, grundsätzlich habe der Kläger für die Steuerschulden der X-GmbH gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 71 AO in Haftung genommen werden können. Der Tatbestand einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sei erfüllt gewesen, da der Kläger als Geschäftsführer der X-GmbH Steuererklärungen nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgegeben, dadurch Steuern verkürzt und vorsätzlich gehandelt habe. Jedoch sei hinsichtlich der Haftung für die Umsatzsteuer 2006 bei Erlass des Haftungsbescheids vom 07.05.2018 bereits die zehnjährige Festsetzungsfrist abgelaufen gewesen. Die Festsetzungsfrist für die Umsatzsteuer 2006 habe, da die Steuerhinterziehungen bezüglich der Umsatzsteuerjahreserklärungen jeweils mit Ablauf des 31.05. des Folgejahres beendet gewesen seien, am 01.01.2008 zu laufen begonnen und am 31.12.2017 geendet. Trotz fehlender Abgabe von Steuererklärungen sei der Beginn der Festsetzungsfrist nicht nach § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gehemmt gewesen. Zwar beginne nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) die Festsetzungsfrist für die Haftung eines sogenannten Entrichtungsschuldners, wenn der haftungsbegründende Pflichtenverstoß darin begründet sei, dass eine Steueranmeldung (Entrichtungssteuer) nicht abgegeben worden sei, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steueranmeldung eingereicht werde, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folge, in dem die Steuer entstanden sei (BFH-Urteil vom 15.01.2015 - I R 33/13). Der Anlauf der Festsetzungsfrist sei aber nur gegenüber demjenigen Steuerpflichtigen gehemmt, der gesetzlich verpflichtet sei, eine Steuererklärung abzugeben. Infolgedessen sei die Festsetzungsfrist nicht gegenüber dem Haftungsschuldner gehemmt, wenn der Steuerschuldner nicht die gesetzlich vorgeschriebene Steuererklärung abgebe. Schuldner der Umsatzsteuer 2006 sei die X-GmbH gewesen, sie allein sei zur Steueranmeldung gemäß § 150 Abs. 1 Satz 3 AO i.V.m. § 18 Abs. 3 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes verpflichtet gewesen.

  7. Im Übrigen sei der angefochtene Haftungsbescheid ‑‑mangels Ablaufs der zehnjährigen Festsetzungsfrist‑‑ rechtmäßig gewesen, so das FG. Der Reduzierung der Haftungssumme mit Bescheid vom 30.07.2020 liege ein rechtlich zulässiger Teilwiderruf im Sinne des § 131 Abs. 1 AO zugrunde, der aufgrund des offenkundigen Rechenfehlers zu Recht mit Bescheid vom 25.08.2021 gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO zurückgenommen worden sei. Der Bescheid habe auch nicht gegen Treu und Glauben verstoßen. Aus der Rücknahme des vorherigen, auf § 69 AO gestützten Haftungsbescheids vom 13.04.2016 durch den Bescheid vom 30.10.2017 gemäß § 130 Abs. 1 AO ergebe sich kein Vertrauenstatbestand. Denn die Haftungsbescheide vom 13.04.2016 einerseits und vom 07.05.2018 andererseits hätten nicht denselben Sachverhalt geregelt. Haftungsbegründender Sachverhalt im ersten Bescheid sei die grob fahrlässig unterlassene Erfüllung steuerlicher Pflichten gewesen, während der zweite Bescheid ausdrücklich auf die vorsätzliche Steuerhinterziehung gestützt worden sei. Der im ersten Haftungsbescheid geschilderte Sachverhalt habe keine Ausführungen dazu enthalten, dass der Kläger die Abgabe der Steuererklärungen mit dem Vorsatz unterlassen habe, Steuern zu verkürzen. Der angefochtene Bescheid habe vielmehr neue, im früheren Haftungsbescheid nicht enthaltene Feststellungen zur Steuerverkürzung und zum diesbezüglichen subjektiven Tatbestand enthalten. Der Rücknahmebescheid habe auch deshalb kein geschütztes Vertrauen des Klägers begründet, weil er keinen Zusatz enthalten habe, wonach der Bescheid ersatzlos aufgehoben werde.

  8. Die vom Kläger eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat der Senat mit Beschluss vom 04.10.2023 - VII B 101/22 als unbegründet zurückgewiesen. Auf die Anschlussbeschwerde des FA, die auf die Haftung für Umsatzsteuer 2006 beschränkt war, hat der Senat die Revision zugelassen. Daraufhin hat der Kläger ‑‑bezogen auf den Haftungsbescheid in vollem Umfang‑‑ Anschlussrevision eingelegt.

  9. Das FA begründet seine Revision damit, die Vorentscheidung sei rechtsfehlerhaft, weil bei der Berechnung der Festsetzungsfrist für die Haftungsinanspruchnahme des Klägers für Umsatzsteuer 2006 die Anlaufhemmung gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO anzuwenden sei. Diese sei für einen Haftungsbescheid auch in solchen Fällen relevant, in denen der Haftungsschuldner "nur" aufgrund seiner Vertreterstellung gemäß §§ 34, 35 AO gesetzlich zur Abgabe einer Steuererklärung beziehungsweise Steueranmeldung verpflichtet sei.

  10. Das FA beantragt:

    Die Vorentscheidung wird aufgehoben, soweit sie den angefochtenen Haftungsbescheid vom 07.05.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.12.2018 hinsichtlich der Umsatzsteuer 2006 betrifft, und die Klage auch insoweit abgewiesen.

    Die Anschlussrevision des Klägers wird zurückgewiesen.

  11. Der Kläger beantragt:

    Die Revision des FA wird zurückgewiesen.

    Im Wege der Anschlussrevision wird weiter beantragt: Unter Abänderung der Vorentscheidung wird der Haftungsbescheid vom 07.05.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.12.2018 insgesamt aufgehoben.

  12. Der Kläger ist der Auffassung, die Anschlussrevision sei nach § 554 Abs. 2 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) auch ohne vorherige Zulassung statthaft. Sie könne bei beschränkter Zulassung der Revision sogar dann wirksam eingelegt werden, wenn sie nicht den Streitgegenstand betreffe, auf den sich die Zulassung beziehe. Zudem stehe die Anschlussrevision im Streitfall mit dem Gegenstand der Hauptrevision in einem rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang.

  13. In der Sache meint der Kläger, das FG habe die Festsetzungsfrist hinsichtlich der Haftung für die Umsatzsteuer 2006 zutreffend berechnet, weil die Festsetzungsfrist nach § 191 Abs. 3 Satz 3 AO an die Tatbestandsverwirklichung anknüpfe, hier die fehlende Abgabe der Umsatzsteuerjahreserklärung zum Ablauf des 31.05.2007. Das FG habe den Beginn der Festsetzungsfrist für die Umsatzsteuer 2006 in nicht zu beanstandender Weise auf den 01.01.2008 datiert. Eine Anlaufhemmung in entsprechender Anwendung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO komme nicht in Betracht. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats sei die Zahlungsverjährung nur in den Fällen gehemmt oder unterbrochen, die ausdrücklich im Gesetz geregelt seien. Dies müsse auch für die Festsetzungsfrist gelten; § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO sei daher nicht analogiefähig. Im Übrigen hält der Kläger, soweit er erstinstanzlich unterlegen war, den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig, weil der Haftungsbescheid vom 13.04.2016 einerseits und der angefochtene Haftungsbescheid vom 07.05.2018 andererseits denselben Sachverhalt regelten und das FA somit nach den Grundsätzen des Vertrauensschutzes am Erlass des angefochtenen Bescheids gehindert gewesen sei.

  14. Das FA hält die Anschlussrevision des Klägers für nicht statthaft, soweit sie über die Haftung für Umsatzsteuer 2006 hinausgeht, da der erkennende Senat die Revision insoweit nicht zugelassen habe. Es bestehe kein rechtlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang, da nicht dasselbe Streitjahr betroffen sei. Im Übrigen sei die Anschlussrevision hinsichtlich der Haftung für Umsatzsteuer 2006 unzulässig, weil der Kläger insoweit nicht beschwert sei.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision des FA bezüglich der Haftung für die Umsatzsteuer des Jahres 2006 ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils des FG. Die Vorentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der angefochtene Haftungsbescheid vom 07.05.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.12.2018 ist insoweit rechtmäßig.

  2. 1. Gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner).

  3. Wer eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt, haftet gemäß § 71 AO für die verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile sowie für die Zinsen nach § 235 AO und die Zinsen nach § 233a AO, soweit diese nach § 235 Abs. 4 AO auf die Hinterziehungszinsen angerechnet werden.

  4. 2. Der Kläger gehörte zu dem von der Haftungsnorm des § 71 AO erfassten Personenkreis. Er hatte eine Steuerhinterziehung begangen.

  5. Das FG hat festgestellt, der Tatbestand einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sei erfüllt gewesen, da der Kläger als Geschäftsführer der X-GmbH Steuererklärungen nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgegeben, dadurch Steuern verkürzt und vorsätzlich gehandelt hat. An diese Feststellungen des Sachverhalts ist der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden, da in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht worden sind.

  6. 3. Es ist ein Haftungsschaden eingetreten, weil durch eine Tat im Sinne des § 71 AO Steuern verkürzt worden sind. Diese beliefen sich ‑‑inklusive steuerlicher Nebenleistungen‑‑ auf insgesamt … €, wie das FG festgestellt hat. Der darin enthaltene Haftungsschaden für die Umsatzsteuer 2006 betrug … €.

  7. Sofern die dabei angerechnete Insolvenzquote mit 28,17 % anstatt mit 21,87 % zugunsten des Klägers zu hoch angesetzt worden sein sollte, handelt es sich dabei zwar um eine offenbare Unrichtigkeit, die das FA noch nach § 129 AO hätte berichtigen können. Eine solche Korrektur hat das FA jedoch nicht vorgenommen. Dem Senat ist eine Änderung aufgrund des im finanzgerichtlichen Verfahren geltenden Verböserungsverbots im vorliegenden Revisionsurteil verwehrt (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO, vgl. dazu BFH-Urteil vom 24.04.2024 - IV R 19/21, Rz 49).

  8. 4. Für die streitige Haftung für Umsatzsteuer 2006 war ‑‑entgegen der Auffassung des FG‑‑ keine Festsetzungsverjährung eingetreten.

  9. a) Gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 AO sind die Vorschriften über die Festsetzungsfrist auf den Erlass von Haftungsbescheiden entsprechend anzuwenden. Die Festsetzungsfrist beträgt gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 AO in den Fällen des § 71 AO zehn Jahre. Sie beginnt nach § 191 Abs. 3 Satz 3 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Ist die Steuer, für die gehaftet wird, noch nicht festgesetzt worden, so endet die Festsetzungsfrist gemäß § 191 Abs. 3 Satz 4 AO für den Haftungsbescheid nicht vor Ablauf der für die Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist; andernfalls gilt § 171 Abs. 10 AO sinngemäß.

  10. Gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist, es sei denn, dass die Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 AO später beginnt.

  11. b) Nach der Rechtsprechung des BFH beginnt die Festsetzungsfrist für eine Haftung eines Entrichtungsschuldners, wenn der haftungsbegründende Pflichtenverstoß darin begründet ist, dass eine Steueranmeldung (Entrichtungssteuer) nicht abgegeben wurde, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steueranmeldung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO; BFH-Urteile vom 15.01.2015 - I R 33/13, Rz 22, zur Haftung für Kapitalertragsteuer; vom 06.03.2008 - VI R 5/05, BFHE 220, 307, BStBl II 2008, 597, unter II.1.b, zur Lohnsteuerhaftung; vom 09.08.2000 - I R 95/99, BFHE 193, 12, BStBl II 2001, 13, unter II.3.c, zur Haftung für Kapitalverkehrsteuer und vom 17.04.1996 - I R 82/95, BFHE 180, 365, BStBl II 1996, 608, zur Steueranmeldung nach § 73e Satz 2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung; Senatsbeschluss vom 22.06.2011 - VII S 1/11; BFH-Beschluss vom 22.01.2003 - V B 122/02, BFH/NV 2003, 645). Das Schrifttum folgt dieser Auffassung (z.B. Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 170 AO Rz 34; Jatzke in Gosch, AO § 191 Rz 43; Drüen in Tipke/Kruse, § 170 AO Rz 15).

  12. c) Bislang nicht vollständig geklärt ist die Frage, ob die von der Rechtsprechung zur Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist für die Haftung von Entrichtungsschuldnern entwickelte Rechtsprechung auch allgemein für Haftungsschuldner im Sinne des § 191 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO gilt, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetzlicher Pflichten (§§ 34, 35 AO) Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für einen Vertretenen abzugeben hat.

  13. aa) Im Schrifttum wird diese Frage teilweise verneint. Hiernach ist die Festsetzungsfrist nur gegenüber demjenigen Steuerpflichtigen gehemmt, der gesetzlich verpflichtet ist, eine Steuererklärung beziehungsweise Steueranmeldung abzugeben, nicht aber gegenüber dem Haftungsschuldner, wenn der Steuerschuldner nicht die gesetzlich vorgeschriebene Steuererklärung abgibt (Drüen in Tipke/Kruse, § 170 AO Rz 15). Gegenüber dem Geschäftsführer einer GmbH, der als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden soll, würde dann keine Anlaufhemmung gelten, wenn er seiner Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für die GmbH als Vertretene nicht nachkommt.

  14. bb) Nach der im Schrifttum überwiegenden Gegenauffassung beginnt für den Haftungsschuldner die Festsetzungsfrist nach § 191 Abs. 3 Satz 3 AO grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der haftungsbegründende Tatbestand verwirklicht worden ist, es sei denn, der Haftungsschuldner ist als Vertreter gesetzlich zur Abgabe einer Steuererklärung oder einer Steueranmeldung verpflichtet (Banniza in HHSp, § 170 AO Rz 5 und 33; Jatzke in Gosch, AO § 191 Rz 43; Frotscher in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO § 170 AO Rz 21; Koenig/Gercke, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 170 Rz 29; Klein/Rüsken, AO, 18. Aufl., § 191 Rz 145; BeckOK AO/Specker, 30. Ed. 01.10.2024, AO § 191 Rz 276; Nacke, Haftung für Steuerschulden, 5. Aufl. 2023, Rz 9.37). Hiernach gilt gegenüber einem Haftungsschuldner dieselbe Anlaufhemmung wie gegenüber dem Steuerschuldner, wenn den Haftungsschuldner eine Erklärungs- oder Anmeldepflicht für den Vertretenen trifft.

  15. cc) Der erkennende Senat hat in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf der Grundlage einer summarischen Prüfung ausgeführt, die Rechtsprechung zur Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist für die Haftung von Entrichtungsschuldnern sei für Haftungsschuldner entsprechend anwendbar (Senatsbeschluss vom 22.06.2011 - VII S 1/11, Rz 27). Der Senat hat erklärt, die Anlaufhemmung gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO sei trotz der Bestimmung des § 191 Abs. 3 Satz 3 AO zu beachten, wonach die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Denn die Haftung des GmbH-Geschäftsführers knüpfe an die Nichtabgabe der Steuererklärung für die GmbH an. Die betreffende Pflicht begründe § 34 AO, und zwar im Rahmen eines eigenen Pflichtverhältnisses zur Finanzverwaltung; die gesetzlichen Vertreter und Geschäftsführer seien Steuerpflichtige im Sinne des § 33 Abs. 1 AO kraft eigener steuerrechtlicher Pflichten und nicht kraft abgeleiteter Pflichten (Senatsbeschluss vom 22.06.2011 - VII S 1/11, Rz 27, mit Verweis auf BFH-Urteil vom 27.06.1989 - VIII R 73/84, BFHE 158, 103, BStBl II 1989, 955).

  16. dd) Ebenso ist vereinzelt in der Rechtsprechung der Finanzgerichte angenommen worden, dass eine Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist in Bezug auf einen Haftungsschuldner auch dann eintritt, wenn dieser aufgrund der Vorschrift des § 34 AO zwecks Erfüllung der steuerlichen Pflichten eines anderen ‑‑etwa einer GmbH‑‑ zur Abgabe von Steueranmeldungen verpflichtet ist (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.09.2010 - 12 K 154/06, Rz 38).

  17. d) Der erkennende Senat hält nach erneuter Überprüfung nach dem für eine Revisionsentscheidung erforderlichen Maß der Rechtsüberzeugung an seiner in dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren wegen der Aussetzung der Vollziehung geäußerten Rechtsauffassung fest (Senatsbeschluss vom 22.06.2011 - VII S 1/11). Dies gilt sowohl ‑‑wie im Streitfall‑‑ für die Haftung eines Steuerhinterziehers gemäß § 71 AO als auch ‑‑wie in dem bezeichneten Verfahren VII S 1/11‑‑ für die Haftung eines Vertreters gemäß § 69 AO.

  18. aa) Dass die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO bei der Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern anzuwenden ist, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetzlicher Pflichten (§§ 34, 35 AO) Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für einen Vertretenen abzugeben hat, folgt bereits aus § 191 Abs. 3 Satz 1 AO. Bei dieser Norm, nach der die Vorschriften über die Festsetzungsfrist, also §§ 169 bis 171 AO, entsprechend anzuwenden sind, handelt es sich um eine sogenannte Analogieverweisung. Diese verwendet der Gesetzgeber, wenn die Regelungsinhalte von Bezugs- und Verweisungsnorm ähnlich sind, der Text der Bezugsnorm jedoch nicht Wort für Wort zur Verweisungsnorm passt; die zitierte ‑‑nicht unmittelbar anwendbare‑‑ Bezugsnorm ist daher gedanklich so umzuformulieren, dass sie für die Verweisungsnorm nutzbar gemacht werden kann (vgl. Bundesministerium der Justiz, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 4. Aufl. 2024, Rz 102).

  19. Die "entsprechende Anwendung" der Vorschriften über die Festsetzungsfrist kann zu einer Anlaufhemmung der Festsetzungsverjährung von Haftungsbescheiden führen. Denn § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO als Bezugsnorm stellt darauf ab, dass eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen ist. Dieser Regelungsinhalt passt zu der Regelung von Haftungsbescheiden nicht "Wort für Wort", da der Haftungsschuldner eine Steuererklärung oder Steueranmeldung nicht für sich selbst einzureichen hat; ansonsten wäre er Steuer- oder Entrichtungsschuldner. Hat der Haftungsschuldner aufgrund eigener gesetzlicher Pflichten Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für einen Vertretenen abzugeben, ist die Bezugsnorm (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO) aufgrund der Analogieverweisung des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO gedanklich mithin umzuformulieren. Danach gilt § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch, wenn jemand eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung kraft gesetzlicher Pflichten für einen Vertretenen einzureichen hat.

  20. bb) Eine Gleichstellung von Steuerschuldner und Haftungsschuldner im Hinblick auf die Anlaufhemmung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO erscheint zudem aufgrund der Wertung des § 33 Abs. 1 AO sachgerecht. Nach dieser Vorschrift ist Steuerpflichtiger, wer eine Steuer schuldet, für eine Steuer haftet, eine Steuer für Rechnung eines Dritten einzubehalten und abzuführen hat, wer eine Steuererklärung abzugeben, Sicherheit zu leisten, Bücher und Aufzeichnungen zu führen oder andere ihm durch die Steuergesetze auferlegte Verpflichtungen zu erfüllen hat. Daraus ergibt sich ebenfalls eine Gleichstellung von Steuer- und Entrichtungsschuldnern mit Haftungsschuldnern. Folglich muss die zitierte Rechtsprechung, die der BFH für die Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist im Falle der Haftung eines Entrichtungsschuldners entwickelt hat (z.B. BFH-Urteil vom 15.01.2015 - I R 33/13, Rz 22), auch gegenüber einem Haftungsschuldner gelten, wenn diesen eine Steuererklärungs- oder Steueranmeldepflicht in Vertretung für den Steuerschuldner trifft.

  21. cc) Die Notwendigkeit einer entsprechenden Anwendung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO für den Erlass von Haftungsbescheiden nach § 191 Abs. 3 Satz 1 AO ergibt sich schließlich aus der Erwägung, dass ein Haftungsschuldner ansonsten gegenüber dem Steuerschuldner oder Entrichtungsschuldner, der eine Steuererklärung abzugeben oder eine Steueranmeldung vorzunehmen hat, ungerechtfertigte Vorteile erlangen würde. Während für den Steuer- oder Entrichtungsschuldner unstreitig die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gilt, könnte sich der Haftungsschuldner darauf berufen, dass nicht er für sich selbst zur Abgabe oder Anmeldung verpflichtet sei, die Anlaufhemmung folglich nicht gelte und die Festsetzungsfrist früher eintreten könne. Eine solche Bevorzugung wäre jedoch sachwidrig, wenn es sich ‑‑wie im Streitfall‑‑ bei dem Haftungsschuldner um diejenige Person handelt, welche als gesetzlicher Vertreter, Vermögensverwalter oder Verfügungsberechtigter (§§ 34, 35 AO) die steuerlichen Pflichten des Steuer- beziehungsweise Entrichtungsschuldners zu erfüllen hat. Wer in diesen Funktionen steuerliche Pflichten verletzt, muss verfahrensrechtlich gleichbehandelt werden wie der Vertretene. Dabei kommt es auch auf den Haftungsgrund (z.B. § 69 AO oder § 71 AO) nicht an.

  22. e) Im Streitfall war für die Umsatzsteuer 2006 keine Festsetzungsverjährung eingetreten. Da der Kläger als Geschäftsführer erst im Verlauf der am 30.10.2014 angeordneten Betriebsprüfung die Steuererklärungen für die X-GmbH für das Jahr 2006 abgegeben hatte, begann die Festsetzungsfrist ‑‑unter Berücksichtigung der Anlaufhemmung gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO‑‑ mit Ablauf des Kalenderjahres 2009 und endete gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 AO mit Ablauf des 31.12.2019, da es sich um einen Fall des § 71 AO handelte. Der Haftungsbescheid vom 07.05.2018 erging innerhalb der Verjährungsfrist.

  23. 5. Der Erlass des angefochtenen Haftungsbescheids war hinsichtlich der Haftung für die Umsatzsteuer 2006 nicht wegen eines entgegenstehenden Vertrauensschutzes des Klägers rechtswidrig. Aus dem Rücknahmebescheid vom 30.10.2017, der das Einspruchsverfahren gegen den Haftungsbescheid vom 13.04.2016 beendete, ist kein Vertrauensschutz hinsichtlich des angefochtenen Haftungsbescheids abzuleiten.

  24. a) Nach der Rechtsprechung des Senats stellt die Rücknahme eines Haftungsbescheids selbst einen Verwaltungsakt dar, der den Betroffenen gegenüber der vorausgegangenen formellen Rechtslage begünstigt, indem er die belastende Wirkung des ursprünglichen Haftungsbescheids beseitigt; die Rücknahme ist demnach geeignet, einen Vertrauenstatbestand dahingehend zu begründen, nicht als Haftungsschuldner in Anspruch genommen zu werden (Senatsurteil vom 22.01.1985 - VII R 112/81, BFHE 143, 203, BStBl II 1985, 562, unter II.1.b bb; vgl. auch Boeker in HHSp, § 191 AO Rz 141; Jatzke in Gosch, AO § 191 Rz 51; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz 125; Nacke, Haftung für Steuerschulden, 5. Aufl. 2023, Rz 11.17; a.A. Klein/Rüsken, AO, 18. Aufl., § 191 Rz 180). Ein erneuter Haftungsbescheid darf dann nur ergehen, wenn die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO vorliegen. Allerdings hat der Senat in diesem Zusammenhang weiter konstatiert, dass streng genommen in dem Erlass eines neuen Haftungsbescheids keine Rücknahme eines vorherigen Rücknahmebescheids liegt, da der begünstigende Verwaltungsakt formell bestehen bleibt und der spätere Haftungsbescheid einen eigenständigen, von dem Rücknahmebescheid unabhängigen Verwaltungsakt darstellt. Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 130 Abs. 2 AO, das Vertrauen des Betroffenen auf eine ihm günstige Verwaltungsregelung zu schützen, ist danach die Vorschrift aber jedenfalls dann auf einen neu ergehenden Haftungsbescheid anzuwenden, wenn er eine im Einspruchsverfahren erstrittene günstige Rechtsposition (Rücknahme eines vorangegangenen Haftungsbescheids) der Sache nach wieder beseitigt. Denn Einspruchsentscheidungen und Abhilfebescheide, die nach erneuter Prüfung der Sache im Einspruchsverfahren (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO) ergehen, unterliegen wegen des durch sie begründeten Vertrauens des Steuerpflichtigen einer erhöhten Bestandsgarantie (Senatsurteil vom 22.01.1985 - VII R 112/81, BFHE 143, 203, BStBl II 1985, 562, unter II.1.b bb).

  25. Ebenso ist in der Rechtsprechung des BFH anerkannt, dass die Aufhebung eines Haftungsbescheids im Einspruchsverfahren mit dem Bemerken, die Aufhebung erfolge "ersatzlos", zu einem Vertrauenstatbestand in dem Sinne führen kann, dass die Finanzbehörde keinen neuen Haftungsbescheid als "Ersatz" für den Ursprungsbescheid erlassen werde (BFH-Urteil vom 25.07.1986 - VI R 216/83, BFHE 147, 215, BStBl II 1986, 779; vgl. auch Boeker in HHSp, § 191 AO Rz 141).

  26. b) Der Senat hat seine Rechtsprechung in der Weise fortgeführt, dass Einschränkungen für den Neuerlass eines Haftungsbescheids nach Aufhebung eines vorangegangenen Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 2 AO beziehungsweise nach den Grundsätzen von Treu und Glauben insoweit nicht bestehen, als der aufgehobene und der erneute Haftungsbescheid nicht denselben Sachverhalt betreffen. Dies bezieht sich nicht nur auf die Höhe der Haftungsbeträge, sondern auch auf den Inhalt, insbesondere wenn die Inanspruchnahme auf einer anderen Haftungsnorm beruht (Senatsbeschluss vom 18.02.1992 - VII B 237/91, BFH/NV 1992, 639, unter 4. der Gründe: Haftung nach § 71 AO anstatt zuvor auf § 69 AO; vgl. auch BFH-Urteil vom 21.06.1989 - VI R 31/86, BFHE 157, 377, BStBl II 1989, 909; BFH-Beschluss vom 07.04.2005 - I B 140/04, BFHE 209, 473, BStBl II 2006, 530, unter II.1.; Jatzke in Gosch, AO § 191 Rz 52; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz 125; BeckOK AO/Specker, 30. Ed. 01.10.2024, AO § 191 Rz 253). Ebenso kann ein Haftungsbetrag in einem ergänzenden Haftungsbescheid erhöht werden, wenn die Erhöhung der Steuerschuld auf neuen Tatsachen beruht (Senatsurteile vom 15.02.2011 - VII R 66/10, BFHE 232, 313, BStBl II 2011, 534, Rz 15 und vom 25.05.2004 - VII R 29/02, BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3, unter 2.c der Gründe).

  27. c) Nach Maßgabe dieser Grundsätze stand dem Erlass des angefochtenen Haftungsbescheids hinsichtlich der Haftung für Umsatzsteuer 2006 kein Vertrauensschutz des Klägers entgegen.

  28. aa) Zwar ist nach den Feststellungen des FG, die den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO binden, der Rücknahmebescheid vom 30.10.2017 im Verlauf eines Einspruchsverfahrens gegen den Haftungsbescheid vom 13.04.2016 ergangen. Das FA hat ausdrücklich darauf hingewiesen, der Haftungsbescheid werde gemäß § 130 Abs. 1 AO zurückgenommen und der Einspruch erledige sich hiermit. In dieser Konstellation entsteht nach der Rechtsprechung des Senats ein Vertrauenstatbestand, sodass § 130 Abs. 2 AO auf einen neu ergehenden Haftungsbescheid anzuwenden ist, weil die Rücknahme in einem Einspruchsverfahren erfolgt ist.

  29. bb) Dennoch bestanden im Streitfall keine Einschränkungen für den Erlass des angefochtenen Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 2 AO beziehungsweise nach den Grundsätzen von Treu und Glauben, da der Haftungsbescheid vom 13.04.2016 einerseits und der Bescheid vom 07.05.2018 andererseits nicht denselben Sachverhalt betrafen.

  30. Das FG hat in einer den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Weise festgestellt, dass haftungsbegründender Sachverhalt im erstgenannten Bescheid die grob fahrlässig unterlassene Erfüllung steuerlicher Pflichten gewesen ist, während der zweite Bescheid ausdrücklich auf die vorsätzliche Steuerhinterziehung gestützt worden ist. Der im ersten Haftungsbescheid geschilderte Sachverhalt enthielt nach den Feststellungen des FG keine Ausführungen dazu, dass der Kläger die Abgabe der Steuererklärungen mit dem Vorsatz unterlassen habe, Steuern zu verkürzen. Der zweite Bescheid enthielt folglich neue, im früheren Haftungsbescheid nicht enthaltene Feststellungen zur Steuerverkürzung und zum diesbezüglichen subjektiven Tatbestand. Zudem erfolgte die Inanspruchnahme des Klägers im zweiten Bescheid auf der Grundlage einer anderen Haftungsnorm, und zwar § 71 AO anstatt zuvor § 69 AO. In dieser Konstellation besteht nach der zitierten Senatsrechtsprechung kein Vertrauensschutz (Senatsurteil vom 18.02.1992 - VII B 237/91, BFH/NV 1992, 639, unter 4. der Gründe).

III.

  1. Die Anschlussrevision des Klägers ist unzulässig.

  2. Die Entscheidung ergeht nicht gemäß § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss. Haben beide Beteiligte Revision eingelegt und ist eine davon unzulässig, kann der Senat insgesamt über beide Revisionen einheitlich durch Urteil entscheiden. (BFH-Urteile vom 25.09.2014 - III R 36/12, BFHE 247, 488, BStBl II 2015, 286, Rz 31 und vom 21.06.2012 - IV R 42/11, Rz 27, m.w.N.).

  3. 1. Die Anschlussrevision hinsichtlich der Haftung für Umsatzsteuer 2007 bis 2011, Körperschaftsteuer 2010 nebst Solidaritätszuschlag und Zinsen zur Umsatzsteuer 2011 ist unzulässig. Der diesbezügliche Antrag des Klägers, unter Abänderung der Vorentscheidung den angefochtenen Haftungsbescheid aufzuheben, ist im Rahmen der Anschlussrevision nicht statthaft.

  4. a) Die gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 554 Abs. 1 Satz 1 ZPO im Finanzgerichtsprozess statthafte Anschlussrevision ist kein Rechtsmittel im eigentlichen Sinne, sondern ein prozessualer Antrag innerhalb des vom Gegner eingelegten Rechtsmittels, der Hauptrevision (BFH-Urteile vom 21.06.2012 - IV R 42/11, Rz 24 und vom 29.04.2008 - I R 67/06, BFHE 221, 201, BStBl II 2011, 55, unter B.II.1. der Gründe; Lange in HHSp, § 120 FGO Rz 300; Krumm in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz 139). Eine Anschlussrevision ist gegenüber der Hauptrevision akzessorisch (BFH-Urteil vom 08.03.2007 - IV R 41/05, BFH/NV 2007, 1813, unter II.B.4.a; Lange in HHSp, § 120 FGO Rz 240 und 300; Krumm in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz 148; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 120 Rz 86). Sie ist nur zulässig, soweit sie denselben Streitgegenstand wie die Revision betrifft (BFH-Urteil vom 17.08.2023 - III R 24/21, Rz 35; BFH-Beschluss vom 16.07.2014 - III S 1/13 (PKH), Rz 16).

  5. Nach der Rechtsprechung des BFH kann deshalb, wenn Gegenstand des angefochtenen Urteils mehrere Verwaltungsakte sind und die Hauptrevision sich nur gegen einen dieser Verwaltungsakte richtet, das angefochtene Urteil hinsichtlich der anderen Verwaltungsakte mit einer Anschlussrevision nicht mehr angegriffen werden (BFH-Urteile vom 21.06.2012 - IV R 42/11, Rz 24; vom 29.04.2008 - I R 67/06, BFHE 221, 201, BStBl II 2011, 55, unter B.II.1. und vom 08.03.2007 - IV R 41/05, BFH/NV 2007, 1813; Senatsurteil vom 13.11.1990 - VII R 27/90, BFH/NV 1991, 775, unter II.4.). Dasselbe gilt, wenn Anschlussrevision und Hauptrevision unterschiedliche Streitjahre betreffen. Hat ein Beteiligter Revision nur wegen eines Streitjahres eingelegt, kann der andere Beteiligte die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht durch eine Anschlussrevision auf ein anderes Streitjahr ausdehnen (BFH-Urteile vom 08.03.2007 - IV R 41/05, BFH/NV 2007, 1813, unter II.B.4.a und vom 29.06.2004 - IX R 26/03, BFHE 206, 418, BStBl II 2004, 995, unter II.2.a, m.w.N.; Lange in HHSp, § 120 FGO Rz 300; Krumm in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz 149; Rüsken in Gosch, FGO § 120 Rz 110.1). Nichts anderes gilt für Haftungsbescheide, die mehrere Streitjahre umfassen (Senatsurteil vom 03.07.1979 - VII R 53/76, BFHE 128, 158, BStBl II 1979, 655; Rüsken in Gosch, FGO § 120 Rz 110).

  6. b) Dieselben Grundsätze gelten im Falle einer teilweisen Revisionszulassung durch den BFH im Verfahren wegen der Nichtzulassung der Revision. Ist die Revision nur wegen eines selbständig anfechtbaren Teils des FG-Urteils zugelassen worden, kann die Anschlussrevision zulässigerweise nicht hinsichtlich eines anderen Teils eingelegt werden (Lange in HHSp, § 120 FGO Rz 300; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 120 Rz 86, m.w.N.). Dies folgt aus § 116 Abs. 5 Satz 3 FGO. Nach dieser Vorschrift wird das Urteil mit der Ablehnung der Beschwerde durch den BFH rechtskräftig. Ist das FG-Urteil hinsichtlich eines selbständig anfechtbaren Teils hiernach rechtskräftig geworden (vgl. Lange in HHSp, § 116 FGO Rz 277), kann die Rechtskraftwirkung nicht durch Einlegung einer Anschlussrevision entfallen.

  7. c) Im Streitfall hat der Senat mit Beschluss vom 04.10.2023 - VII B 101/22 auf die Beschwerde des Klägers die Revision nicht zugelassen, sondern die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen. Lediglich auf die Anschlussbeschwerde des FA, die auf die Haftung für Umsatzsteuer 2006 beschränkt war, hat der Senat die Revision zugelassen. Da die Revision des FA das Streitjahr 2006, die Anschlussrevision des Klägers aber (auch) andere Streitjahre (2007 bis 2011) betrifft, ist die Ausdehnung der Revision auf die anderen Streitjahre nach der zitierten Rechtsprechung unzulässig. Es handelt sich jeweils um selbständig anfechtbare Teile des FG-Urteils.

  8. d) In diesem Zusammenhang kann sich der Kläger nicht mit Erfolg auf § 554 Abs. 2 ZPO und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) berufen, wonach sich die Anschlussrevision auf den Streitgegenstand der Hauptrevision beziehen muss und mithin eine Anschlussrevision zumindest dann unzulässig ist, wenn sie einen Lebenssachverhalt betrifft, der mit dem von der Revision erfassten Streitgegenstand nicht in einem unmittelbaren rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang steht (BGH-Urteile vom 24.06.2003 - KZR 32/02, BGHZ 155, 189, unter I. der Gründe und vom 22.11.2007 - I ZR 74/05, BGHZ 174, 244, unter II.1. der Gründe, m.w.N.). Da sich die angefochtene Entscheidung im Streitfall auf verschiedene Streitjahre und Steuerarten bezieht, besteht weder ein einheitlicher Streitgegenstand noch ein rechtlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang.

  9. 2. Die Anschlussrevision hinsichtlich der Haftung für Umsatzsteuer 2006 ist ebenfalls unzulässig.

  10. Da der Kläger erstinstanzlich insoweit obsiegt hat, fehlt ihm im Revisionsverfahren die erforderliche Beschwer (vgl. dazu Lange in HHSp, § 120 FGO Rz 261).

IV.

  1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 und Abs. 2 FGO (vgl. zur Kostentragung bei einem unzulässigen Anschlussrechtsmittel BFH-Beschluss vom 15.10.2010 - V R 20/09; Böwing-Schmalenbrock in Gosch, FGO § 135 Rz 51).

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