Zum Hauptinhalt springen Zur Hauptnavigation springen Zum Footer springen
Zur Hauptnavigation springen Zum Footer springen

Beschluss vom 29. April 2025, X S 2/25 (PKH)

Prozesskostenhilfe für eine Entschädigungsklage wegen überlanger Dauer eines Klageverfahrens wegen Kindergeld

ECLI:DE:BFH:2025:B.290425.XS2.25.0

BFH X. Senat

ZPO § 114 Abs 1 S 1, GVG § 198 Abs 1

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht , 05. Juli 2024, Az: 3 K 113/21

Leitsätze

1. NV: Die Frage, ob für die Beurteilung der Angemessenheit der Dauer einer auf die Gewährung von Kindergeld gerichteten Klage die für gewöhnliche finanzgerichtliche Klageverfahren entwickelte Zwei-Jahres-Regelvermutung gilt oder aber der vom Bundessozialgericht für Klagen auf existenzsichernde Leistungen zugrunde gelegte Zwölf-Monats-Zeitraum, ist bisher ungeklärt.

2. NV: Ebenfalls ungeklärt ist die Frage, ob der typisierende Regelzeitraum für die Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens zu verkürzen ist, wenn ein Verfahren der Prozesskostenhilfe vorangegangen ist, bei dem bereits eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage stattgefunden hat.

3. NV: Ausführungen zu den Anforderungen an das Weglegen einer Gerichtsakte im Hinblick auf einen möglichen Mangel der Gerichtsorganisation.

Tenor

Der Antragstellerin wird für die beabsichtigte Rechtsverfolgung im Wege der Erhebung einer Entschädigungsklage gegen das Land Schleswig-Holstein wegen unangemessener Dauer des vor dem Schleswig-Holsteinischen Finanzgericht geführten Klageverfahrens 3 K 113/21 Prozesskostenhilfe nach einem Streitwert von 1.400 € gegen Zahlung monatlicher Raten von 83 € unter Beiordnung von Rechtsanwalt … bewilligt.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Tatbestand

I.

  1. Die Antragstellerin begehrt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für eine beabsichtigte Entschädigungsklage wegen der von ihr als unangemessen angesehenen Dauer des vor dem Schleswig-Holsteinischen Finanzgericht (FG) geführten Verfahrens 3 K 113/21. Dieses Verfahren war vom 22.12.2021 (Klageerhebung nach vorangegangenem PKH-Verfahren) bis zur Absendung des verfahrensabschließenden Kostenbeschlusses des FG am 09.07.2024 anhängig.

  2. Dem Ausgangsverfahren liegt der folgende Sachverhalt zugrunde: Die Antragstellerin ist Mutter unter anderem eines im Mai 2002 geborenen Kindes (K). Die im Ausgangsverfahren beklagte Behörde (Familienkasse) lehnte den für K gestellten Antrag auf Gewährung von Kindergeld für die Monate Oktober bis Dezember 2020 (einschließlich des Kinderbonus nach § 66 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑ in der für das Jahr 2020 geltenden Fassung) ab. Die Antragstellerin habe die Voraussetzungen des ‑‑hier allein in Betracht kommenden‑‑ Kindergeldtatbestands des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht nachgewiesen. Insbesondere fehle es an einer Meldung von K als Arbeitsuchende bei einer Agentur für Arbeit im Inland.

  3. Am 27.08.2021 beantragte die Antragstellerin beim FG die Gewährung von PKH für ein beabsichtigtes Klageverfahren und fügte den Entwurf einer Klageschrift bei. Nach einem Schriftsatzaustausch und der Übersendung der Kindergeldakte durch die Familienkasse gewährte das FG mit einem ausführlich begründeten Beschluss am 20.12.2021 PKH. Am 22.12.2021 erhob die Antragstellerin im Ausgangsverfahren Klage. Sie begehrte nicht nur die Festsetzung von Kindergeld für die Monate Oktober bis Dezember 2020 sowie des Kinderbonus für 2020 (insgesamt 912 €), sondern gemäß § 77 EStG auch die Erstattung der Kosten des Einspruchsverfahrens, die sich auf 159,94 € beliefen.

  4. Das FG nahm die Klage zu dem Aktenzeichen 3 K 113/21, in dem auch das vorausgegangene PKH-Verfahren geführt worden war. Es übersandte die Klageschrift der Familienkasse und fragte beide Beteiligte formularmäßig nach ihrem Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin und ohne mündliche Verhandlung. Die Antragstellerin beantwortete diese Anfrage nicht. Die kurze Stellungnahme der Familienkasse vom 31.01.2022 übermittelte das FG am 01.02.2022 der Antragstellerin.

  5. Am 11.04.2022 vermerkte eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des FG in der Akte: "Die Entscheidung ist rechtskräftig; es wurde nach Bewilligung von PKH keine Klagebegründung eingereicht." Sie verfügte das Weglegen der Akte. Dies hatte zur Folge, dass das Klageverfahren ‑‑dessen Akte ausschließlich elektronisch geführt wurde‑‑ weder der Berichterstatterin noch der Geschäftsstelle nochmals vorgelegt wurde.

  6. Am 12.02.2024 erhob die Antragstellerin Verzögerungsrüge. Die Berichterstatterin teilte ihr am 13.02.2024 mit, das Verfahren sei irrtümlich als erledigt ausgetragen und weggelegt worden. Sie bat, diesen Fehler zu entschuldigen.

  7. Am 28.02.2024 richtete die Berichterstatterin rechtliche Hinweise und Aufklärungsanordnungen an die Beteiligten. Auf die Stellungnahme der Familienkasse vom 25.03.2024 folgte am 26.03.2024 ein weiterer rechtlicher Hinweis der Berichterstatterin an die Familienkasse. Am 02.04.2024 bat die Berichterstatterin das Jobcenter um Übersendung von Unterlagen und übermittelte am 29.04.2024 ein weiteres Schreiben an das Jobcenter. Am 08.05.2024 wies sie die Familienkasse darauf hin, dass sie höchst vorläufig geneigt sei, der Antragstellerin zu folgen, und fragte an, ob die Familienkasse abhelfen könne. Nachdem die Familienkasse dies verneinte, wandte sich die Berichterstatterin am 12.06.2024 mit einem weiteren, sehr ausführlich begründeten rechtlichen Hinweis an die Beteiligten. Sie vertrat darin die Auffassung, dass ein Kindergeldanspruch bestehen dürfte, nicht aber ein Anspruch auf Erstattung der Kosten des Einspruchsverfahrens. Mit Abhilfebescheid vom 20.06.2024 setzte die Familienkasse Kindergeld für die Monate Oktober bis Dezember 2020 fest. Nach einem Hinweis der Antragstellerin auf den fehlenden Kinderbonus folgte am 26.06.2024 ein weiterer Abhilfebescheid, mit dem auch der Kinderbonus festgesetzt wurde. Nachdem die Antragstellerin auf die weitere Verfolgung ihres Begehrens auf Erstattung der Kosten des Einspruchsverfahrens verzichtet hatte und die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt hatten, entschied die Berichterstatterin mit Beschluss vom 05.07.2024, der am 09.07.2024 an die Antragstellerin abgesandt wurde, über die Kosten des Verfahrens.

  8. Am 02.01.2025 hat die Antragstellerin den vorliegenden PKH-Antrag gestellt. Sie ist der Auffassung, aufgrund der dem FG unterlaufenen Panne sei hier nicht das typisierende Drei-Phasen-Modell des Senats anzuwenden. Vielmehr sei die Zeitspanne, während der das Ausgangsverfahren irrtümlich weggelegt worden sei, in vollem Umfang als verzögert anzusehen. Hinzu komme, dass die Beteiligten schon in dem PKH-Verfahren, das dem Ausgangsverfahren vorangegangen sei, umfangreich vorgetragen hätten. Dem FG habe schon im PKH-Verfahren die Akte der Familienkasse vorgelegen; es habe im PKH-Beschluss eine summarische Würdigung vorgenommen.

  9. Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
    ihr unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten PKH ohne Ratenzahlung für eine noch zu erhebende Entschädigungsklage über 2.400 € zu bewilligen.

  10. Das Bundesland, das Beklagter einer künftigen Entschädigungsklage wäre, tritt dem PKH-Antrag entgegen. Die Geschäftsstellen des FG seien durch die Umstellung auf die elektronische Gerichtsakte erheblich belastet gewesen. Die Antragstellerin habe sich vor Erhebung der Verzögerungsrüge nicht beim FG gemeldet, obwohl das Versehen leicht aufklärbar gewesen wäre. Sie habe nicht einmal die Anfrage wegen einer Entscheidung durch die Berichterstatterin und eines Verzichts auf mündliche Verhandlung beantwortet, was ihr fehlendes Interesse an dem Verfahren zeige. Die Verzögerungsrüge und die Entschädigungsklage seien daher als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Die Antragstellerin habe die Verzögerungsrüge zu einem sehr späten Zeitpunkt vor allem deshalb erhoben, um künftig entschädigt zu werden. Damit handele es sich um ein unzulässiges "Dulden und Liquidieren". Jedenfalls wirke eine Verzögerungsrüge nach der Rechtsprechung des beschließenden Senats im Regelfall nur gut sechs Monate zurück. Vorliegend habe die Antragstellerin dadurch, dass die Berichterstatterin das Versehen sofort eingeräumt und um Entschuldigung gebeten habe, bereits Wiedergutmachung auf andere Weise erlangt.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Bewilligung der PKH beruht auf § 114 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

  2. 1. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung im Wege der Erhebung einer Entschädigungsklage bietet ‑‑allerdings nur in Bezug auf einen Entschädigungsbetrag von 1.400 €‑‑ hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht als mutwillig.

  3. a) Eine Entschädigungsklage hätte nicht schon deshalb keine Aussicht auf Erfolg, weil sie und die Verzögerungsrüge ‑‑so die Auffassung des Bundeslandes‑‑ unter dem Gesichtspunkt eines "Duldens und Liquidierens" rechtsmissbräuchlich wäre. Die Antragstellerin hat die Verzögerungsrüge etwa zwei Jahre und zwei Monate nach Einleitung des Klageverfahrens erhoben. Dabei hat sie sich ersichtlich an der Senatsrechtsprechung orientiert, wonach die Dauer eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens im Regelfall angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen und die damit begonnene ("dritte") Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt (ausführlich Senatsurteil vom 07.11.2013 - X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 62 ff.). Im Gegenteil wäre gerade eine zu früh erhobene Verzögerungsrüge unwirksam gewesen (vgl. z.B. Senatsurteil vom 29.11.2017 - X K 1/16, BFHE 259, 499, BStBl II 2018, 132, Rz 40 f.).

  4. Weshalb eine Verzögerungsrüge rechtsmissbräuchlich sein soll, die unmittelbar nach Beginn des ‑‑auf Grundlage der typisierenden Senatsrechtsprechung bestimmten‑‑ als unangemessen anzusehenden Teils der Verfahrensdauer erhoben wird, ist aus dem Vorbringen des Bundeslandes nicht nachvollziehbar. Das Bundesland scheint zu unterstellen, dass die Antragstellerin von dem unberechtigten Weglegen der Akte Kenntnis hatte. Hierfür gibt es aber nicht den geringsten Anhaltspunkt. Vielmehr war ihr unbekannt, worauf die lange Verfahrensdauer beruhte. In einem solchen Fall gibt es keine Rechtspflicht oder Obliegenheit des Beteiligten, bei der Geschäftsstelle anzurufen, "um das Versehen aufzuklären".

  5. Im Übrigen berücksichtigt der Senat den Gesichtspunkt eines ‑‑einen Entschädigungsanspruch gegebenenfalls ausschließenden‑‑ unzulässigen "Duldens und Liquidierens" in typisierender Weise dadurch, dass nach seiner Rechtsprechung eine Verzögerungsrüge in Bezug auf die Erlangung eines Geldentschädigungsanspruchs im Regelfall nur gut sechs Monate zurückwirkt (vgl. Senatsurteil vom 06.04.2016 - X K 1/15, BFHE 253, 205, BStBl II 2016, 694, Rz 40 ff.).

  6. b) Auf der anderen Seite wird aber auch schon bei der ‑‑im PKH-Verfahren gebotenen‑‑ summarischen Betrachtung der Erfolgsaussichten eines künftigen Entschädigungsklageverfahrens der Argumentation der Antragstellerin nicht zu folgen sein, während der Dauer der irrtümlichen Weglegung des Ausgangsverfahrens sei die Verfahrensdauer in vollem Umfang als unangemessen anzusehen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb ein solches Versehen des Gerichts die Verpflichtung auslösen sollte, die Bearbeitung eines derartigen Verfahrens über das entschädigungsrechtliche Regelmaß hinaus deutlich zu beschleunigen. Durch den gerichtlichen Fehler verändert sich der Charakter des Verfahrens nicht. Insbesondere ist kein Grund ersichtlich, die dem Gericht bei jedem Verfahren zur Verfügung stehende Vorbereitungs- und Bedenkzeit allein aufgrund eines solchen Geschäftsstellenversehens auf ein extremes Minimum ‑‑hier nach Auffassung der Antragstellerin wohl nur noch zwei Monate‑‑ zu verkürzen.

  7. c) Voraussichtlich werden in einem künftigen Entschädigungsklageverfahren unter anderem die folgenden Rechtsfragen von Bedeutung sein, zu denen jeweils noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt und die auch nicht eindeutig zu beantworten sind, so dass eine Klärung dieser Rechtsfragen im PKH-Verfahren ausscheidet (vgl. dazu Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.10.2024 - 1 BvR 2006/24, Neue Juristische Wochenschrift 2025, 213, Rz 11, m.w.N.) und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat:

  8. (1) Ist bei einer Klage auf Gewährung von Kindergeld die für steuerrechtliche Streitigkeiten entwickelte typisierende Rechtsprechung anzuwenden, wonach die Dauer eines Klageverfahrens von gut zwei Jahren im Regelfall noch als angemessen anzusehen ist oder ist hier eine Anlehnung an den in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ‑‑BSG‑‑ (z.B. Urteil vom 24.03.2022 - B 10 ÜG 2/20 R, BSGE 134, 18) ‑‑typischerweise für Klagen auf existenzsichernde Leistungen‑‑ entwickelten Zwölf-Monats-Zeitraum vorzunehmen (vgl. auch die Aussage im Senatsurteil vom 07.11.2013 - X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 77, wonach die Bedeutung von Verfahren auf Gewährung von Kindergeld wegen der Notwendigkeit einer zeitnahen Zahlung überdurchschnittlich hoch sei)?

  9. (2) Ist der typisierende Regelzeitraum für die Beurteilung der Angemessenheit eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens zu verkürzen, wenn dem Klageverfahren ein PKH-Verfahren vorangegangen ist, bei dem bereits eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage stattgefunden hat?

  10. (3) Ist eine Ausnahme von der üblicherweise auf gut sechs Monate begrenzten Rückwirkung der Verzögerungsrüge anzunehmen, wenn die Dauer der Angemessenheit des Verfahrens sich möglicherweise nicht nach den in der bisherigen Rechtsprechung entwickelten typisierenden Regelfristen richtet, die Rechtslage aber ungeklärt ist?

  11. (4) Ist eine ‑‑die Zuerkennung einer Geldentschädigung ausschließende‑‑ Wiedergutmachung auf andere Weise dadurch erfolgt, dass die Berichterstatterin die Antragstellerin nach Erkennen des irrtümlichen Weglegens höflich um Entschuldigung gebeten hat?

  12. Der Senat ist hierzu allerdings vorläufig der Auffassung, dass dieser Gesichtspunkt nicht geeignet ist, einen Entschädigungsanspruch von vornherein auszuschließen. Verschuldensgesichtspunkte spielen bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ohnehin keine Rolle (vgl. auch BTDrucks 17/3802, S. 19).

  13. Der Berichterstatterin ‑‑die allein um Entschuldigung gebeten hat‑‑ dürfte nach Aktenlage kein Verschulden oder Verursachungsbeitrag an der eingetretenen Verzögerung zuzurechnen sein. Im Gegenteil hat sie das Klageverfahren sowohl vor dem irrtümlichen Weglegen als auch nach Erkennen des Fehlers in geradezu mustergültiger Weise durch Maßnahmen der Sachaufklärung sowie ausführliche und fundierte rechtliche Hinweise äußerst zügig bis zu seinem endgültigen Abschluss gefördert. Der Senat sieht derzeit vielmehr ‑‑vorbehaltlich eines weiteren Sachvortrags des Bundeslandes in einem künftigen Entschädigungsklageverfahren‑‑ die folgenden Ursachen für die auf Seiten des Gerichts vorgenommene objektiv fehlerhafte Sachbehandlung:

  14. Entweder beruhte das Weglegen auf einem Fehler einer Geschäftsstellenmitarbeiterin und ist durch organisatorische Unzulänglichkeiten im Ausgangsgericht zumindest gefördert worden. So sieht die im Gericht für die elektronische Aktenführung verwendete Software offenbar ‑‑jedenfalls hat das Bundesland nichts Gegenteiliges vorgetragen‑‑ keine Plausibilitätskontrolle vor, wenn zu einem Klageverfahren, zu dem bisher keine Erledigungsentscheidung gespeichert ist, die unplausible Anweisung in die Software eingegeben wird, das Verfahren auf Dauer ohne Überwachung wegzulegen. Auch könnte es einen Organisationsmangel darstellen, wenn eine derart gravierende Entscheidung wie das dauerhafte Weglegen eines aktiven Verfahrens allein durch eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle ohne Mitwirkung eines richterlichen Senatsmitglieds ‑‑oder zumindest ohne sonstige Einrichtung eines Vier-Augen-Prinzips‑‑ getroffen werden kann. Eine Bitte um Entschuldigung durch die für die Verzögerung verantwortliche Geschäftsstellenmitarbeiterin oder die Gerichtsverwaltung ist indes nicht ausgesprochen worden.

  15. Alternativ könnte die Ursache des objektiv unberechtigten Weglegens darin zu sehen sein, dass sowohl das isolierte PKH-Verfahren als auch ‑‑nach vollständiger Erledigung des PKH-Verfahrens‑‑ das anschließende Klageverfahren beim FG unter demselben Aktenzeichen (3 K 113/21) geführt worden ist. Da das PKH-Verfahren erledigt war, hätte es durch die Geschäftsstelle durchaus "weggelegt" werden dürfen. Ein solches "Weglegen" hätte aber keinesfalls auch Auswirkungen auf das ‑‑unter demselben Aktenzeichen geführte‑‑ noch offene Klageverfahren haben dürfen. Es könnte daher schon als fehlerhaft anzusehen sein, dass das Klageverfahren unter demselben Aktenzeichen wie das erledigte isolierte PKH-Verfahren eingetragen worden ist. Sollte diese Handhabung indes auf entsprechenden im FG geltenden Organisationsanweisungen beruhen, dürfte eine solche Organisationsanweisung bedenklich sein, da sie das Risiko von Fehlern in der weiteren Verfahrensführung erheblich erhöht. In jedem Fall hätte bei der Führung des erledigten PKH-Verfahrens und des anschließenden Klageverfahrens unter demselben Aktenzeichen beachtet und durch organisatorische Vorkehrungen sichergestellt werden müssen, dass spätere Verfügungen, die nur für eines dieser Verfahren gelten ‑‑wie die spätere Verfügung des "Weglegens"‑‑ keine Auswirkungen auf das andere Verfahren haben. Dass dies geschehen sein könnte, ist aus den vorgelegten Akten nicht erkennbar.

  16. d) Selbst wenn sämtliche dieser offenen Rechtsfragen zugunsten der Antragstellerin zu beantworten sein sollten, könnte sich aber nicht der begehrte Entschädigungsanspruch von 2.400 €, sondern allenfalls ein Betrag von 1.400 € ergeben. Da das PKH-Verfahren, das dem Ausgangsverfahren voranging, vom FG sehr zügig und gründlich geführt worden ist, erscheint es als ausgeschlossen, hieraus eine Auswirkung auf das Ausgangsverfahren abzuleiten, die über eine Verkürzung der Regelfrist um einen Monat hinausginge. Eine eventuelle zwölfmonatige Regelfrist für die noch angemessene Nichtbearbeitung von Kindergeldverfahren würde sich dadurch auf elf Monate verkürzen. Das Ausgangsgericht hätte dann im Dezember 2022 mit der Förderung des im Dezember 2021 eingegangenen Klageverfahrens beginnen müssen. Da die tatsächliche Bearbeitung im Februar 2024 begonnen hat, wäre selbst bei einer angenommenen unbeschränkten Rückwirkung der Verzögerungsrüge ein entschädigungspflichtiger Zeitraum von lediglich 14 Monaten (und damit eine Höchstentschädigung von 1.400 €) anzunehmen.

  17. 2. Die Antragstellerin hat zudem dargelegt, dass sie die Kosten der Prozessführung nur in Raten aufbringen kann. Wegen der Einzelheiten der Berechnung verweist der Senat auf die Anlage, die gemäß § 127 Abs. 1 Satz 3 ZPO allerdings nur der für die Antragstellerin bestimmten Ausfertigung dieses Beschlusses beigefügt ist.

  18. 3. Die Beiordnung des von der Antragstellerin bezeichneten Rechtsanwalts beruht auf § 121 Abs. 1 ZPO.

  19. 4. Im Übrigen ergeht der Beschluss gemäß § 113 Abs. 2 Satz 1 FGO ohne weitere Begründung.

  20. 5. Der Senat weist darauf hin, dass mit der Zustellung dieses Beschlusses die zweiwöchige Frist (§ 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO) für die Beantragung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (samt Nachholung der versäumten Rechtshandlung) hinsichtlich der versäumten sechsmonatigen Frist für die Erhebung der Entschädigungsklage (§ 198 Abs. 5 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes) beginnt (zur Einordnung der Sechs-Monats-Frist als wiedereinsetzungsfähige gesetzliche Verfahrensfrist vgl. Senatsurteile vom 20.03.2019 - X K 4/18, BFHE 263, 498, BStBl II 2020, 16, Rz 42 ff. und vom 14.04.2021 - X K 3/20, BFH/NV 2021, 1507, Rz 22, jeweils mit Hinweisen auf die dogmatisch abweichende, hier aber nicht zu anderen Ergebnissen führende Auffassung des BSG).

Seite drucken