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Beschluss vom 30. Dezember 2024, VII B 96/23

Zinsanspruch bei Erstattung unionsrechtswidriger Einfuhrabgaben

ECLI:DE:BFH:2024:B.301224.VIIB96.23.0

BFH VII. Senat

AO § 238, EUV 952/2013 Art 46, EUV 952/2013 Art 116 Abs 6

vorgehend Hessisches Finanzgericht , 31. Mai 2023, Az: 7 K 998/20

Leitsätze

1. NV: Ein unionsrechtlicher Zinsanspruch besteht auch dann, wenn nationale Verfahrensrechte wie Aussetzung der Vollziehung oder kostenfreie Rechtsbehelfe genutzt werden konnten (Anschluss an Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306; Senatsurteil vom 15.11.2022 - VII R 29/21, VII R 17/18, BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803).

2. NV: Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union (UZK) schließt den Zinsanspruch nicht aus, wenn die fehlerhafte Abgabenerhebung auf intensiver, aber rechtsfehlerhafter behördlicher Prüfung beruht (Anschluss an EuGH-Urteile Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, Rz 73, und Wortmann vom 18.01.2017 - C-365/15, EU:C:2017:19, Rz 25). Die bloße Durchführung einer elektronischen Risikoanalyse im Rahmen der Zollabfertigung nach Art. 46 UZK stellt keine solche Überprüfung der Zollanmeldung dar.

3. NV: Die Modalitäten für die Verzinsung unionsrechtswidrig erhobener Abgaben sind zwar Sache des nationalen Rechts, müssen aber den unionsrechtlichen Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität genügen (Anschluss an EuGH-Urteil Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, Rz 71 und 74).

Tenor

Die Beschwerde des Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 31.05.2023 - 7 K 998/20 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Streitgegenstand sind Zinsen, die die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) auf erstattete Einfuhrabgaben fordert. Es handelt sich um Musterfälle. Das finanzielle Volumen zwischen den Beteiligten streitiger Zinsen ist angesichts erstatteter Einfuhrabgaben (…) höher.

  2. Die Klägerin entrichtete für zunächst als zollpflichtig eingestufte Monitore in diversen Fällen Einfuhrabgaben, die später als zu Unrecht erhoben erkannt und erstattet wurden. Der Beklagte und Beschwerdeführer (Hauptzollamt ‑‑HZA‑‑) verweigerte jedoch die Zahlung von Zinsen, wogegen die Klägerin Klage erhob. Im Laufe des Verfahrens gab das HZA hinsichtlich bestimmter Einfuhren teilweise nach, da es für nach Erteilung und unter Geltung einer verbindlichen Zolltarifauskunft (vZTA) eingeführte Waren einen Zinsanspruch anerkannte.

  3. Das Finanzgericht (FG) stellte sodann fest, dass der Klägerin für die weiteren streitgegenständlichen Einfuhren ebenfalls ein unionsrechtlicher Zinsanspruch zustehe - unter anderem deshalb, weil die fehlerhafte Einreihung nach Feststellung des FG nicht auf bloßen Abfertigungsfehlern beruhte, sondern auf intensiven, aber rechtsfehlerhaften Prüfungen des HZA betreffend diese Warengruppe. So habe es zum Teil sogar eine Beschau der Waren durchgeführt, Einreihungsgutachten erstellt und vZTAe erlassen, die die fehlerhafte Einordnung bestätigt hätten. Die Klägerin habe überzeugend dargelegt, dass sie gezwungen gewesen sei, sich bei der Anmeldung der Waren an die dergestalt gefestigte Rechtsauffassung des HZA zu halten, um sanktionsbewehrte Folgen einer abweichenden Ansicht zu vermeiden. Die Höhe der Zinsen richtete das FG nach § 238 der Abgabenordnung. Da es die Rechtslage durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), insbesondere durch das Urteil Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306 als geklärt ansah, ließ das FG die Revision nicht zu.

  4. Gegen diese Entscheidung wendet sich das HZA mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde und macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) sowie die Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) geltend.

  5. Die Klägerin ist der Nichtzulassungsbeschwerde dahingehend entgegengetreten, dass den aufgeworfenen Rechtsfragen keine grundsätzliche Bedeutung zukomme und somit kein Grund für die Zulassung der Revision bestehe.

Entscheidungsgründe

II.

  1. 1. Die Beschwerde ist nicht begründet, weil die vom HZA aufgeworfenen Rechtsfragen weder grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO aufweisen noch ihre Beantwortung zur Fortbildung des Rechts im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO erforderlich ist.

  2. a) Die Zulassung einer Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine hinreichend bestimmte Rechtsfrage herausstellt, deren Klärung im Interesse der Allgemeinheit an der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts erforderlich ist (Klärungsbedürftigkeit) und die im konkreten Streitfall klärbar ist (Klärungsfähigkeit). Eine Rechtsfrage ist insbesondere dann nicht (mehr) klärungsbedürftig, wenn sie durch die Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt ist und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung dieser Frage erforderlich machen (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 24.05.2019 - VI B 101/18, Rz 2).

  3. aa) Gemessen an diesen Voraussetzungen sieht der Senat keine grundsätzliche Bedeutung in der ersten vom HZA aufgeworfenen Frage, ob mit der Ausgestaltung des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Verfahrensrechts, das ‑‑nach Meinung des HZA‑‑ ein kostenfreies außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren und eine Aussetzung der Vollziehung (AdV) des angefochtenen Abgabenbescheids ermöglicht, ein wirksamer Schutz vor den Nachteilen einer unzutreffenden Rechtsanwendung für den Betroffenen erreicht und gewährleistet werde, dass ihm der Zugang zu seinen unionsrechtlichen Rechten nicht übermäßig erschwert oder unmöglich gemacht wird.

  4. (1) Die Rechtsprechung des EuGH hat die Grundsätze zur Verzinsung unionsrechtswidrig erhobener Abgaben umfassend vorgegeben. Nach dem EuGH-Urteil Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306 besteht ein unionsrechtlicher Anspruch auf Erstattung solcher Abgaben und Zahlung von Zinsen, um finanzielle Nachteile durch die Nichtverfügbarkeit des Geldes auszugleichen. Der EuGH hat klargestellt, dass dieser Anspruch bereits bei einem Verstoß gegen Unionsrecht entsteht, der sowohl durch Gerichte als auch durch nationale Verwaltungsbehörden festgestellt werden kann. Eine gerichtliche Geltendmachung ist nicht zwingend erforderlich, und der Anspruch umfasst den Zeitraum zwischen der Zahlung der Abgabe und ihrer Erstattung. Ebenfalls geklärt ist, dass das nationale Verfahrensrecht gegebenenfalls unionsrechtskonform auszulegen ist, um den unionsrechtlichen Zinsanspruch durchzusetzen. Dabei sind insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu wahren. Dies bedeutet im Kern, dass die Geltendmachung des unionsrechtlichen Zinsanspruchs weder unverhältnismäßig erschwert noch faktisch unmöglich gemacht werden darf.

  5. (2) In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH hat der beschließende Senat im Urteil vom 15.11.2022 - VII R 29/21, VII R 17/18 (BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803, Rz 28 ff.) entschieden, dass die nationalen Verzinsungsvorschriften im Einklang mit den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität sowie der EuGH-Rechtsprechung unionsrechtskonform auszulegen sind. Dabei ist bei der Berechnung des Zinsbetrags der Zeitraum zwischen der überhöhten Zahlung und der Erstattung der nicht geschuldeten Abgabe zu berücksichtigen (s. auch Senatsbeschlüsse vom 05.12.2017 - VII B 85/17, Rz 7 und vom 07.08.2024 - VII B 168/22, Rz 11).

  6. (3) Aus dem Argument des HZA, dass das kostenfreie Rechtsbehelfsverfahren und die Möglichkeit der AdV einen Zinsanspruch für diesen Zeitraum entbehrlich machten, ergibt sich keine weitere Klärungsbedürftigkeit. Nach der EuGH-Rechtsprechung ist der unionsrechtliche Zinsanspruch unabhängig von verfahrensrechtlichen Besonderheiten der Mitgliedstaaten. Im Interesse der Effektivität dürfen nationale Regelungen den unionsrechtlichen Anspruch nicht beschränken (EuGH-Urteil Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, Rz 74). Der EuGH hat unmissverständlich klargestellt, dass der Zinsanspruch der Kompensation finanzieller Nachteile dient, die durch die Nichtverfügbarkeit eines Geldbetrags entstehen (EuGH-Urteil Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, Rz 70). Verfahrenskosten oder die Kostenfreiheit des Rechtsbehelfsverfahrens stehen hierbei nicht im Fokus.

  7. bb) Auch der zweiten Frage des HZA, ob die Risikoanalyse, wenn sie dazu führe, dass eine Zollanmeldung nicht geprüft werde, bereits als Überprüfung der Zollanmeldung anzusehen sei, die zum Ausschluss der Anwendung des Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union (UZK) führe, kommt ebenfalls keine grundsätzliche Bedeutung zu. Unabhängig von der Frage, ob dem angegriffenen Urteil des FG eine solche Aussage ‑‑dass bereits schon die bloße elektronische Risikoanalyse der Anwendung des Art. 116 Abs. 6 UZK entgegenstehe‑‑ überhaupt zu entnehmen ist, fehlt es jedenfalls an der Klärungsbedürftigkeit einer solchen Rechtsfrage.

  8. (1) Der auf den ersten Blick bestehende Widerspruch zwischen dem grundsätzlich bestehenden unionsrechtlichen Zinsanspruch und der Regelung in Art. 116 Abs. 6 Unterabs. 1 UZK, wonach bei Erstattungen nach Art. 116 ff. UZK grundsätzlich keine Verzinsung erfolgt, wird durch die Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteile Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, Rz 73 und Wortmann vom 18.01.2017 - C-365/15, EU:C:2017:19, Rz 25) dahingehend aufgelöst, dass diese Ausnahme nur für diejenigen Fälle gilt, in denen die rechtswidrige Abgabenerhebung unmittelbar auf die notwendige Schnelligkeit und damit einhergehende Fehleranfälligkeit des Zollabfertigungsverfahrens zurückzuführen ist. Liegt eine solche Konstellation nicht vor, stünde die Ausnahme im Widerspruch zum primärrechtlich begründeten Zinsanspruch und wäre damit unwirksam.

  9. (2) Art. 46 UZK enthält Vorgaben für die Durchführung von Zollkontrollen. Insbesondere ist vorgeschrieben, dass diese Kontrollen auf einer elektronischen Risikoanalyse beruhen. Durch diese Vorgehensweise soll ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den zur Einhaltung des Zollrechts notwendigen Kontrollen und dem reibungslosen Ablauf des rechtmäßigen Handels erzielt werden.

  10. (3) Die vom HZA aufgeworfene Frage ist vor diesem Hintergrund nicht klärungsbedürftig. Gerade die elektronische Risikoanalyse ist ein Bestandteil des Zollabfertigungsverfahrens, der dessen notwendiger Schnelligkeit sowie der damit verbundenen erhöhten Fehleranfälligkeit geschuldet ist. Aus diesem Grund kann sie für sich genommen nicht dazu führen, die Anwendung von Art. 116 Abs. 6 UZK auszuschließen. Die Rechtslage ist insoweit eindeutig (acte clair), sodass ein weiterer Klärungsbedarf nicht besteht.

  11. cc) Die dritte vom HZA aufgeworfene Rechtsfrage, ob auf die Umsetzung des sich aus dem primären Unionsrecht ergebenden unionsrechtlichen Zinsanspruchs verzichtet werden könne und stattdessen direkt auf den aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz fließenden primären unionsrechtlichen Zinsanspruch abgestellt werden könne, um einen Zinsanspruch in Fällen von nicht rechtshängig gewordenen Verfahren zu begründen, ist ebenfalls durch die Rechtsprechung geklärt. Der EuGH hat in seinem Urteil Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, Rz 71 und 74 entschieden, dass in Ermangelung einer spezifischen Unionsregelung die Modalitäten für die Zahlung von Zinsen bei der Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Geldbeträgen durch die innerstaatliche Rechtsordnung der Mitgliedstaaten zu regeln sind. Dabei müssen diese Regelungen indes den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität entsprechen. Der EuGH räumt den Mitgliedstaaten mithin einen Spielraum bei der Umsetzung des unionsrechtlichen Zinsanspruchs in ihre nationalen Regelungen ein, betont jedoch ausdrücklich, dass diese Regelungen den Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz entsprechen müssen, um die unionsrechtlichen Vorgaben zu gewährleisten. Hieraus ergibt sich, dass eine Umsetzung des unionsrechtlichen Zinsanspruchs in nationales Recht nicht zwingend erforderlich ist. Vielmehr ist das nationale Recht erforderlichenfalls unionsrechtskonform auszulegen, um den unionsrechtlichen Zinsanspruch zu gewährleisten.

  12. b) Die Revision ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts zuzulassen.

  13. Bei dem Zulassungsgrund der Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) handelt es sich um einen Spezialtatbestand der Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Die Revision ist zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, wenn davon auszugehen ist, dass im Einzelfall Veranlassung besteht, Grundsätze und Leitlinien für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen (z.B. BFH-Beschlüsse vom 24.06.2014 - XI B 45/13, Rz 35 und vom 24.07.2017 - XI B 25/17, Rz 25). Dieser Zulassungsgrund setzt damit ebenfalls eine klärungsbedürftige und klärbare Rechtsfrage voraus (BFH-Beschlüsse vom 13.11.2012 - II B 123/11, Rz 2, m.w.N. und vom 04.07.2018 - IX B 114/17, Rz 4). Diese Voraussetzung ist jedoch vorliegend ‑‑wie ausgeführt‑‑ nicht erfüllt.

  14. 2. Von einer weiteren Begründung und einer ausführlicheren Darstellung des Tatbestands wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.

  15. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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