ECLI:DE:BFH:2025:U.140525.VIR17.23.0
BFH VI. Senat
AO § 47, AO § 149 Abs 1 S 1, AO § 169 Abs 1, AO § 169 Abs 2, AO § 170 Abs 1, AO § 170 Abs 2 S 1 Nr 1, AO § 175 Abs 1 S 1 Nr 2, EStG § 2 Abs 5b, EStG § 19, EStG § 20, EStG § 25 Abs 3 S 1, EStG § 32d Abs 6, EStG § 43 Abs 5 S 1, EStG § 46 Abs 2 Nr 1, EStG § 46 Abs 2 Nr 8, EStDV § 56 S 1 Nr 2 Buchst b, EStG VZ 2014 , EStG VZ 2015
vorgehend FG Nürnberg, 20. Juli 2023, Az: 8 K 1062/22
Leitsätze
1. Der Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) entfaltet keine anlaufhemmende Wirkung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO), wenn er zusammen mit Abgabe der Steuererklärung nach Ablauf der Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 AO gestellt wird.
2. Kapitaleinkünfte, die dem besonderen Steuertarif nach § 32d Abs. 1 EStG aber nicht der Kapitalertragsteuer unterliegen, sind in die "positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte" im Sinne des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG einzubeziehen.
Tenor
Auf die Revision der Kläger werden das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 20.07.2023 - 8 K 1062/22, die Einspruchsentscheidung vom 31.08.2022 und der Ablehnungsbescheid vom 21.01.2021 aufgehoben, soweit sie die Einkommensteuer 2015 betreffen.
Der Beklagte wird verpflichtet, die Erblasserin für den Veranlagungszeitraum 2015 unter Vornahme einer Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes zur Einkommensteuer zu veranlagen.
Die Revision der Kläger wegen Einkommensteuer 2014 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens haben die Kläger und der Beklagte jeweils zur Hälfte zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zu je ½ Gesamtrechtsnachfolger der im März 2018 verstorbenen … (Erblasserin). Sie reichten für die Erblasserin am 30.12.2020 Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (2014 und 2015) ein und erklärten darin jeweils Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (Versorgungsbezüge), die dem inländischen Lohnsteuerabzug unterlegen hatten. Außerdem erklärten sie Kapitalerträge in Höhe von 4.543 € (2014) und 1.476 € (2015), die dem inländischen Steuerabzug unterlegen hatten, sowie für 2015 ausländische Kapitalerträge in Höhe von 2.683 €, die nicht dem inländischen Steuerabzug unterlegen hatten. Die Kläger beantragten für beide Streitjahre die Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für sämtliche Kapitalerträge der Erblasserin.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) lehnte die Durchführung von Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre ab, da die Festsetzungsfrist abgelaufen sei und keine Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen bestanden habe.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) ab.
Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Sie beantragen sinngemäß,
das Urteil des FG Nürnberg vom 20.07.2023 - 8 K 1062/22, die Einspruchsentscheidung vom 31.08.2022 sowie den Ablehnungsbescheid vom 21.01.2021 aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Erblasserin für die Veranlagungszeiträume 2014 und 2015 unter Vornahme von Günstigerprüfungen zu veranlagen.Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision wegen Einkommensteuer 2014 ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Die Revision wegen Einkommensteuer 2015 ist hingegen begründet. Sie führt insoweit zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der spruchreifen Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Die Vorinstanz hat nur für das Streitjahr 2014 zu Recht entschieden, dass die Kläger keinen Anspruch auf Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung zugunsten der Erblasserin haben, für das Streitjahr 2015 hat das FG einen solchen Anspruch der Kläger zu Unrecht abgelehnt.
1. Gemäß § 47 der Abgabenordnung (AO) erlöschen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis unter anderem durch Verjährung. Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung sind nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.
Die Festsetzungsfrist beträgt für die Einkommensteuer regelmäßig vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Sie beginnt grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 Alternative 1 AO). Ist eine Steuererklärung einzureichen, beginnt die Festsetzungsfrist abweichend mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
a) Nach § 149 Abs. 1 Satz 1 AO, § 25 Abs. 3 Satz 1 EStG i.V.m. § 56 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung haben unbeschränkt steuerpflichtige Personen, bei denen ‑‑wie bei der Erblasserin‑‑ im Veranlagungszeitraum die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 EStG nicht vorgelegen haben, eine Einkommensteuererklärung für das abgelaufene Kalenderjahr (nur dann) abzugeben, wenn in dem Gesamtbetrag der Einkünfte solche aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, enthalten sind und eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 6 und Nr. 7 Buchst. b EStG in Betracht kommt.
b) Besteht das Einkommen ‑‑wie hier‑‑ ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit im Sinne des § 19 EStG, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, so wird nach dem vorliegend allein in Betracht kommenden § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG eine Veranlagung unter anderem nur durchgeführt, wenn die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 EStG und § 24a EStG, mehr als 410 € beträgt.
aa) Zur positiven Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG können zwar auch Kapitalerträge im Sinne des § 20 EStG gehören. Eine Veranlagungspflicht nach § 32d Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG besteht jedoch nicht, wenn zusätzlich zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 19 EStG nur Einkünfte aus Kapitalvermögen gemäß § 20 EStG bezogen werden, die der Kapitalertragsteuer gemäß § 32d Abs. 1 EStG unterlegen haben und für die die Einkommensteuer mit dem Steuerabzug nach § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG abgegolten ist. Denn solche Einkünfte aus Kapitalvermögen sind gemäß § 2 Abs. 5b EStG nicht in die (positive) Summe der Einkünfte des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG einzubeziehen.
bb) Etwas anderes, das heißt eine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung nach § 32d Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG, ergibt sich für Einkünfte aus Kapitalvermögen, die der abgeltenden Kapitalertragsteuer nach § 32d Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG unterlegen haben, auch nicht im Fall eines Antrags auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG.
(1) Diese Vorschrift räumt dem Steuerpflichtigen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ein unbefristetes Wahlrecht ein, dessen Ausübbarkeit (nur) durch den Eintritt der Festsetzungsverjährung (BFH-Urteil vom 12.05.2015 - VIII R 14/13, BFHE 250, 64, BStBl II 2015, 806, Rz 10) und den Eintritt der Bestandskraft begrenzt wird (BFH-Urteile vom 12.05.2015 - VIII R 14/13, BFHE 250, 64, BStBl II 2015, 806, Rz 11; vom 09.08.2016 - VIII R 27/14, BFHE 255, 51, BStBl II 2017, 821, Rz 19, und vom 22.05.2024 - VIII R 20/22, Rz 24). Sie begründet indes keine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung und kann damit nicht gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO den Beginn der Festsetzungsfrist aufschieben. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Regelung gedanklich an die Abgabe einer Steuererklärung anknüpft beziehungsweise diese voraussetzt, da nur insoweit die sogenannte Günstigerprüfung durchgeführt werden kann.
Das mit dem gesetzlichen Eintritt der Festsetzungsverjährung einhergehende Erlöschen des Steueranspruchs gemäß § 47 AO kann durch einen Antrag des Steuerpflichtigen nach § 32d Abs. 6 EStG daher nicht rückwirkend aufgehoben werden.
(2) Insoweit kann nichts anderes gelten, als in dem vom erkennenden Senat bereits entschiedenen Fall, dass der Steuerpflichtige durch einen Antrag nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4a Satz 1 Buchst. c Alternative 2 EStG a.F. (aufgehoben mit Wirkung vom 01.01.2004 durch Art. 9 Nr. 31 des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 vom 29.12.2003, BGBl I 2003, 3076: Antrag auf Gewährung des Haushaltsfreibetrags im Fall des § 32 Abs. 7 Satz 2 EStG a.F.) eine Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung erst begründet (vgl. Senatsurteil vom 28.03.2012 - VI R 68/10, BFHE 237, 400, BStBl II 2012, 711, Rz 16). Wie in diesem Fall kann der Steuerpflichtige auch durch die Stellung des Antrags nach § 32d Abs. 6 EStG die in § 47 AO gesetzlich festgelegte und unmittelbare Beendigung des Steuerschuldverhältnisses nicht rückwirkend aufheben.
2. Bei Heranziehung dieser Grundsätze war der Anspruch der Kläger als Gesamtrechtsnachfolger auf Steuerfestsetzung zugunsten der Erblasserin für das Streitjahr 2014 im Zeitpunkt der Abgabe der Steuererklärungen am 30.12.2020 aufgrund des Eintritts der Festsetzungsverjährung (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO) nach § 47 AO erloschen (unter a). Ein späterer Beginn der Festsetzungsfrist kommt insoweit auch nicht wegen eines rückwirkenden Ereignisses im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO in Betracht (unter b). Für das Streitjahr 2015 war im Zeitpunkt der Abgabe der Steuererklärung durch die Kläger am 30.12.2020 dagegen noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten (unter c).
a) Für das Streitjahr 2014 begann die vierjährige Festsetzungsfrist vorliegend nach § 170 Abs. 1 AO bereits mit Ablauf des Jahres 2014, dem Jahr der Entstehung des Steueranspruchs (vgl. § 38 AO i.V.m. § 36 Abs. 1 EStG), und endete dementsprechend mit Ablauf des Jahres 2018.
aa) Ein Pflichtveranlagungsfall lag insoweit nicht vor. Denn bis zum Ende der regulären Festsetzungsfrist bestand mangels Vorliegens eines der Tatbestände des § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 EStG für das Streitjahr 2014 keine Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen. Insbesondere war nach den vorstehenden Ausführungen kein Fall des § 32d Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 1 EStG gegeben, da die Erblasserin nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) im Streitjahr 2014 zusätzlich zu ihren Versorgungsbezügen nur Einkünfte aus Kapitalvermögen gemäß § 20 EStG bezogen hatte, die der Kapitalertragsteuer unterlegen hatten.
bb) Im Fall einer Antragsveranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ‑‑wie im Streitfall‑‑ kommt die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO von vornherein nicht zur Anwendung (dazu grundlegend Senatsurteil vom 14.04.2011 - VI R 53/10, BFHE 233, 311, BStBl II 2011, 746).
cc) Die erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist eingereichte Steuererklärung konnte ‑‑wie oben ausgeführt‑‑ auch angesichts des bei dieser Gelegenheit gestellten Antrags nach § 32d Abs. 6 EStG ebenfalls nicht mehr nachträglich eine rückwirkende Hemmung des Beginns der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO bewirken.
b) Ein späterer Beginn der Festsetzungsfrist für das Streitjahr 2014 kommt des Weiteren nicht wegen eines rückwirkenden Ereignisses im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO in Betracht.
aa) Der Antrag auf Günstigerprüfung gemäß § 32d Abs. 6 EStG selbst ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH kein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (vgl. BFH-Urteile vom 12.05.2015 - VIII R 14/13, BFHE 250, 64, BStBl II 2015, 806, Rz 24; vom 14.07.2020 - VIII R 6/17, BFHE 268, 538, BStBl II 2021, 92, Rz 24, und vom 26.09.2023 - VIII R 10/21, Rz 20; ebenso BFH-Urteil vom 21.08.2019 - X R 16/17, BFHE 266, 163, BStBl II 2020, 99, Rz 45, zum Antrag gemäß § 32d Abs. 4 EStG). Gemeint ist hiermit der Fall, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Antragstellung gemäß § 32d Abs. 6 EStG bereits vor Eintritt der Bestandskraft der Steuerfestsetzung vorliegen, also die Hinzurechnung der Kapitalerträge zu den übrigen Einkünften aufgrund der der bestandskräftigen Steuerfestsetzung zugrundeliegenden Besteuerungsgrundlagen zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung führt, und es allein an der notwendigen Antragstellung fehlt. Wird der Antrag in diesem Fall nach Eintritt der Bestandskraft erstmals gestellt, ist die Antragstellung gemäß § 32d Abs. 6 EStG kein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (BFH-Urteil vom 14.07.2020 - VIII R 6/17, BFHE 268, 538, BStBl II 2021, 92, Rz 24).
Hiervon abzugrenzen ist der Fall, dass die Festsetzung der Steuer in einem Änderungsbescheid aufgrund darin berücksichtigter veränderter Besteuerungsgrundlagen dem Steuerpflichtigen nach Eintritt der Bestandskraft erstmals eine erfolgreiche Antragstellung gemäß § 32d Abs. 6 EStG ermöglicht (s. BFH-Urteile vom 14.07.2020 - VIII R 6/17, BFHE 268, 538, BStBl II 2021, 92, Rz 23 und 25 bis 27, und vom 26.09.2023 - VIII R 10/21, Rz 18). In diesem Fall ist nicht allein die Antragstellung, sondern die Steuerfestsetzung in einem Änderungsbescheid das rückwirkende Ereignis, wenn der Änderungsbescheid eine erstmalige erfolgreiche Antragstellung gemäß § 32d Abs. 6 EStG ermöglicht (BFH-Urteil vom 26.09.2023 - VIII R 10/21, Rz 18).
bb) Vorliegend wurde der Antrag auf Günstigerprüfung von den Klägern erstmals nach Eintritt der Bestandskraft gestellt. Die Voraussetzungen für eine Ausübung des Wahlrechts nach § 32d Abs. 6 EStG lagen hier ersichtlich bereits vor Eintritt der Bestandskraft vor. Die Antragstellung selbst ist daher kein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Die besondere Konstellation eines Änderungsbescheids, der die wirksame Stellung eines Antrags gemäß § 32d Abs. 6 EStG erstmals ermöglicht und als rückwirkendes Ereignis in Betracht käme, lag im Streitfall nicht vor. Vielmehr hatte das FA die Durchführung der Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr 2014 abgelehnt.
c) Für das Streitjahr 2015 hat die Vorinstanz hingegen zu Unrecht einen Anspruch der Kläger auf Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung zugunsten der Erblasserin unter Vornahme der Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG abgelehnt. Für dieses Jahr begann die Festsetzungsverjährung aufgrund der Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO erst mit Ablauf des Jahres 2018, da eine Pflicht zur Abgabe der Einkommensteuererklärung bestand.
aa) Eine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung ergibt sich für solche Einkünfte aus Kapitalvermögen, die dem abgeltenden Steuerabzug nach § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG nicht unterlegen haben, gemäß § 32d Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG, wenn der Betrag von 410 € überschritten wird.
Ungeachtet des erst mit Wirkung vom Veranlagungszeitraum 2019 durch Art. 1 Nr. 15 des Gesetzes zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 12.12.2019 (BGBl I 2019, 2451) neu angefügten Satzes 3 des § 32d Abs. 3 EStG (vgl. dazu BRDrucks 356/19 (Beschluss), S. 12) haben auch schon zuvor mangels Steuerabzugs unversteuert gebliebene, aber dem besonderen Steuertarif nach § 32d Abs. 1 EStG unterliegende Kapitaleinkünfte oberhalb der Freigrenze von 410 € zur Pflichtveranlagung gemäß § 32d Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 1 EStG geführt (ebenso Pfirrmann in Kirchhof/Seer, EStG, 24. Aufl., § 32d Rz 17; a.A. Kühner/Gabert-Pipersberg in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32d EStG Rz 70; Oellerich in Bordewin/Brandt, § 32d EStG Rz 107a, wonach eine bereits aufgrund von § 32d Abs. 3 Satz 1 EStG spezialgesetzlich bestehende Veranlagungspflicht unabhängig von der 410 €-Freigrenze des § 46 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 1 EStG anzunehmen sei).
Dafür, dass solche mangels Steuerabzugs unversteuert gebliebenen Kapitalerträge bereits seit Einführung der Abgeltungsteuer im Jahr 2009 in die "positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte" im Sinne des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG einzubeziehen waren, spricht maßgeblich eine dem Gesetzeszweck entsprechende Auslegung der Regelung in § 2 Abs. 5b EStG, die nur eine einkommensteuerliche Doppelerfassung von Kapitaleinkünften verhindern soll, die nach § 32d Abs. 1 EStG mit einem besonderen Steuersatz besteuert wurden oder die der Kapitalertragsteuer mit abgeltender Wirkung nach § 43 Abs. 5 EStG unterlegen haben (vgl. BTDrucks 16/4841, S. 46; Pfirrmann in Kirchhof/Seer, EStG, 24. Aufl., § 32d Rz 17). § 2 Abs. 5b EStG hindert mithin die Einbeziehung von mangels Steuerabzugs unversteuert gebliebenen Kapitalerträgen in die "positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte" nicht.
bb) Nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) haben die Kläger in der Einkommensteuererklärung für 2015 auch ausländische Kapitalerträge in Höhe von 2.683 € erklärt, die nicht dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben, so dass nach den vorstehenden Ausführungen eine Pflicht zur Veranlagung nach § 32d Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 1 EStG bestand.
cc) Die Festsetzungsfrist begann insoweit daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO erst mit Ablauf des Jahres 2018 und endete mit Ablauf des Jahres 2022. Somit erfolgte die Abgabe der Steuererklärung für das Streitjahr 2015 durch die Kläger am 30.12.2020 rechtzeitig.
dd) Im Rahmen der vom FA durchzuführenden Pflichtveranlagung für 2015 ist die von den Klägern beantragte Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG ohne weiteres möglich.
3. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2, § 121 Satz 1 FGO).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Da die Revision teilweise ‑‑hinsichtlich des Streitjahrs 2015‑‑ Erfolg hat, kann auch die Kostenentscheidung des FG keinen Bestand haben. Die Kosten des gesamten Verfahrens sind verhältnismäßig entsprechend den jeweils auf die Veranlagungszeiträume 2014 und 2015 entfallenden Streitwerten aufzuteilen.