ECLI:DE:BFH:2025:B.190925.VIB3.25.0
BFH VI. Senat
DBA CHE 1971 Art 15a Abs 1 S 1, DBA CHE 1971 Art 15a Abs 2 S 1, DBA CHE 1971 Art 15a Abs 2 S 2, EStG § 1 Abs 1 S 1, FGO § 76 Abs 1 S 1, FGO § 96 Abs 1 S 1 Halbs 1, FGO § 96 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 115 Abs 3 Nr 3, GG Art 103 Abs 1, DBACHE1971Prot1992G , EStG VZ 2019 , DBA CHE Art 15a Abs 1 S 1, DBA CHE Art 15a Abs 2 S 1, DBA CHE Art 15a Abs 2 S 2, DBACHE1971Prot1992
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 11. Dezember 2024, Az: 4 K 2273/23
Leitsätze
NV: Nach Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 entfällt die Grenzgängereigenschaft bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahres nur dann, wenn eine Person an mehr als 60 Arbeitstagen aufgrund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010). Eine Reduzierung dieser 60 Nichtrückkehrtage aufgrund einer Erkrankung sieht das DBA-Schweiz 1971/2010 nach seinem eindeutigen Wortlaut nicht vor.
Tenor
Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 11.12.2024 - 4 K 2273/23 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist bei Zweifeln gegen ihre Zulässigkeit jedenfalls unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen.
Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Dabei muss die Rechtsfrage klärungsbedürftig und in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig sein (ständige Rechtsprechung, etwa Senatsbeschluss vom 26.11.2020 - VI B 29/20, Rz 19).
a) Der Kläger hält die Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam, ob eine Reduktion der Nichtrückkehrtage auch dann anzunehmen ist, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt längere Zeit ausfällt.
Dieser Frage kommt allerdings keine grundsätzliche Bedeutung zu. Sie ist nach dem eindeutigen Wortlaut des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11.08.1971 (BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519) i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 27.10.2010 (BGBl II 2011, 1092, BStBl I 2012, 513) ‑‑DBA-Schweiz 1971/2010‑‑ so zu beantworten, wie es das Finanzgericht (FG) getan hat.
Nach Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 sind Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die ein Grenzgänger aus unselbständiger Arbeit bezieht, in dem Vertragsstaat zu besteuern, in dem dieser ansässig ist. Grenzgänger ist jede in einem Vertragsstaat ansässige Person, die in dem anderen Vertragsstaat ihren Arbeitsort hat und von dort regelmäßig an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010). Kehrt diese Person nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz zurück, entfällt ihre Grenzgängereigenschaft nur dann, wenn sie bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahrs an mehr als 60 Arbeitstagen aufgrund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010).
Dabei sind nach Nr. II.2. des Verhandlungsprotokolls zum Änderungsprotokoll vom 18.12.1991 (BGBl II 1993, 1889, BStBl I 1993, 929) ‑‑Verhandlungsprotokoll‑‑, das nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) eine verbindliche Vorgabe für die Auslegung des Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/2010 enthält (z.B. BFH-Urteile vom 30.09.2020 - I R 37/17, BFHE 271, 120, Rz 18, und vom 01.06.2022 - I R 32/19, BFHE 277, 279, Rz 13, m.w.N.), Arbeitstage im Sinne des Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/2010 die in dem Arbeitsvertrag vereinbarten Tage. Insoweit sieht Nr. II.3. des Verhandlungsprotokolls vor, dass bei einem Arbeitnehmer, der ‑‑anders als der Kläger‑‑ nicht während des gesamten Kalenderjahrs in dem anderen Staat beschäftigt ist, die für die Grenzgängereigenschaft nicht schädlichen Tage der Nichtrückkehr in der Weise zu berechnen sind, dass für einen vollen Monat der Beschäftigung fünf Tage und für jede volle Woche der Beschäftigung ein Tag anzusetzen sind. Entsprechend regelt Nr. II.4. Satz 2 des Verhandlungsprotokolls, dass bei einem Teilzeitbeschäftigten, der nur tageweise im anderen Staat beschäftigt ist, die Anzahl von 60 unschädlichen Tagen der Nichtrückkehr durch proportionale Kürzung im Verhältnis der Arbeitstage herabzusetzen ist. Schließlich wird nach Nr. II.1. des Verhandlungsprotokolls die Annahme einer regelmäßigen Rückkehr an den Wohnsitz nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich die Arbeitsausübung bedingt durch betriebliche Umstände ‑‑wie zum Beispiel bei Schichtarbeitern oder Krankenhauspersonal mit Bereitschaftsdienst‑‑ über mehrere Tage erstreckt.
Tage der Nichtrückkehr sind folglich nur dann zu berücksichtigen, wenn ‑‑wie in Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 bestimmt‑‑ diese Nichtrückkehr aufgrund der Arbeitsausübung (aus beruflichen Gründen) erfolgt. Das heißt, dass eine "Rückkehr" aus dem Tätigkeitsstaat an den Tagen nicht verlangt wird, an denen sich der Grenzgänger aus privaten Gründen (etwa wegen Urlaubs oder Krankheit) nicht in den Tätigkeitsstaat begeben hat.
Hierfür spricht neben dem Wortlaut von Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 auch der Sinn der Grenzgängerregelung. Sie will der überwiegenden Bindung an den Wohnsitzstaat Rechnung tragen, die durch solche Aufenthalte zusätzlich gestärkt wird (vgl. z.B. Flick/Wassermeyer/Kempermann, Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Schweiz, Art. 15a Rz 33, m.w.N.).
Das FG hat somit einen krankheitsbedingten Ausfall des Klägers (auch für einen längeren Zeitraum), der in der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung unbeschränkt steuerpflichtig war, zu Recht als für die Grenzgängereigenschaft unschädlich beurteilt. Einen weitergehenden Klärungsbedarf hat der Kläger nicht aufgezeigt.
b) Ferner hält der Kläger die Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam, ob sich aus der Gesamtschau des Arbeitsverhältnisses ergibt, dass auch ohne konkreten Nachweis von 60 Nichtrückkehrtagen gleichwohl der Arbeitslohn eines Arbeitnehmers im gehobenen Segment in der schweizerischen Eidgenossenschaft zu versteuern ist und/oder dazu führt, dass aufgrund von Erkrankung des Arbeitnehmers die Anzahl der Nichtrückkehrtage pro rata temporis zu reduzieren ist. Daran anschließend sei die Rechtsfrage zu klären, ob aufgrund der Gesamtschau der Verhältnisse den Arbeitnehmern Beweiserleichterungen zugestanden werden, wenn sie alles in "ihrer Macht stehende getan haben, um einen Unterlagen/Bescheinigungen zu kommen".
Auch diese Fragen haben keine grundsätzliche Bedeutung. Denn nach Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 entfällt die Grenzgängereigenschaft bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahrs ‑‑wie im Streitfall‑‑ nur dann, wenn eine Person an mehr als 60 Arbeitstagen aufgrund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010). Eine Reduzierung dieser 60 Nichtrückkehrtage aufgrund einer Erkrankung oder einer "Gesamtschau" sieht das DBA-Schweiz 1971/2010 nach seinem eindeutigen Wortlaut nicht vor.
2. Das Urteil des FG beruht nicht auf den klägerseits geltend gemachten Verfahrensmängeln.
Verfahrensmängel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind Verstöße gegen das Gerichtsverfahrensrecht, die das FG bei der Handhabung seines Verfahrens begeht und die zur Folge haben, dass eine ordnungsgemäße Grundlage für die Entscheidung im Urteil fehlt (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 09.03.2016 - V B 82/15, Rz 8, m.w.N.).
a) Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen (Amtsermittlungsgrundsatz). Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern und die Pflicht des Gerichts, sich mit dem entscheidungserheblichen Vorbringen auseinanderzusetzen (Senatsurteil vom 29.09.2022 - VI R 34/20, BFHE 278, 319, BStBl II 2023, 142, Rz 31, m.w.N.).
Der Senat kann dahinstehen lassen, ob das FG die erste Arbeitsstätte des Klägers unter Verstoß gegen die als verletzt gerügten Verfahrensvorschriften in St. Gallen verortet hat. Denn darauf kam es nach der für die Prüfung eines Verfahrensmangels maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung des FG (s. dazu z.B. Senatsbeschlüsse vom 01.09.2005 - VI B 30/05, BFH/NV 2005, 2046 und vom 16.10.2020 - VI B 13/20, Rz 19) nicht entscheidungserheblich an. Maßgeblich für die Entscheidung des FG war vielmehr (allein) die Tatsache, dass der Kläger schon nach seinem eigenen Vortrag die 60-Tage-Grenze des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 nicht erreicht hatte.
b) Nichts anderes gilt, soweit der Kläger rügt, das FG sei verfahrensfehlerhaft davon ausgegangen, der Kläger habe angeblich davon abgesehen, auch nur ansatzweise Gründe vorzutragen, weshalb sein ehemaliger Arbeitgeber sich geweigert haben könnte, trotz bestehender Rechtspflicht eine Bescheinigung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck über die Nichtrückkehrtage gemäß Anlage Gre-3 a auszustellen. Denn das FG hat seine Entscheidung damit begründet, dass sich aus dem eigenen Vortrag des Klägers nur eine Anzahl von 48 Nichtrückkehrtagen ergebe. Schon bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags werde die Grenze der Nichtrückkehrtage von mindestens 60 solcher Tage nicht überschritten. Auf die Gründe, warum sich der ehemalige Arbeitgeber des Klägers weigerte, die Nichtrückkehrtage nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck zu bescheinigen, kam es nach der für die Prüfung eines Verfahrensmangels maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung des FG folglich nicht an.
3. Von der Wiedergabe des Tatbestandes und einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.