ECLI:DE:BFH:2025:B.191125.IXB121.24.0
BFH IX. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 72, AO § 146 Abs 1, AO § 158, AO § 162
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 21. November 2024, Az: 10 K 87/21
Leitsätze
1. NV: Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), dass formelle Buchführungsmängel nur insoweit zur Schätzung berechtigen, als sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln.
2. NV: Entscheidungen, die durch die Rechtsprechung des BFH aufgehoben worden sind, können eine Divergenz nicht begründen.
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 21.11.2024 - 10 K 87/21 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑ (dazu unter 1.), zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO (dazu unter 2.) oder wegen eines Verfahrensmangels im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (dazu unter 3.) zuzulassen.
1. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) ist nicht geboten.
a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Die Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig sein (vgl. Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 100, m.w.N.). Die Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung verlangt substantiierte Ausführungen zur Klärungsbedürftigkeit einer hinreichend bestimmten ‑‑abstrakt beantwortbaren‑‑ Rechtsfrage, die im konkreten Streitfall voraussichtlich klärbar/klärungsfähig (entscheidungserheblich) und deren Beurteilung zweifelhaft oder umstritten ist. Hierzu muss sich der Beschwerdeführer mit der einschlägigen Rechtsprechung, insbesondere des Bundesfinanzhofs (BFH), sowie den Äußerungen im Schrifttum auseinandersetzen. Dabei sind Ausführungen erforderlich, aus denen sich ergibt, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Rechtsfrage zweifelhaft und umstritten ist (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 28.02.2025 - IX B 85/24, Rz 4).
b) Nach diesen Maßstäben liegt die vom Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt ‑‑FA‑‑) vorgebrachte grundsätzliche Bedeutung nicht vor.
aa) Das FA führt an, in der angefochtenen Entscheidung habe das Finanzgericht (FG) den Rechtssatz aufgestellt, wonach die Aufgabe eines Schriftstücks zur Post an einem Freitag stets zu begründeten Zweifeln führe, ob die Dreitagesfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung in der im Streitzeitraum geltenden Fassung bei einem Ablauf an einem Montag anwendbar sei. Für die angefochtene Entscheidung des FG war diese Frage jedoch nicht entscheidungserheblich. Denn das FG ist zu der Überzeugung gelangt, dass ausweislich des Posteingangsbuchs des Prozessbevollmächtigten die Einspruchsentscheidung tatsächlich erst am 16.03.2021 (Dienstag) zugegangen ist. Den Umstand, dass bei Aufgabe zur Post an einem Freitag Zweifel an einer Anwendbarkeit der Dreitagesfiktion bestehen, hat es nur hilfsweise ("Darüber hinaus …") und damit nicht tragend in seiner Begründung angeführt.
bb) Auch die vom FA angesprochenen Mängel in den Aufzeichnungen der Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) können mangels Entscheidungserheblichkeit keine grundsätzliche Bedeutung begründen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH, dass formelle Buchführungsmängel nur insoweit zur Schätzung berechtigen, als sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln (vgl. zuletzt u.a. BFH-Urteil vom 18.06.2025 - X R 19/21, zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen, Rz 37, m.w.N.). Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und insoweit bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) bestehen an der sachlichen Richtigkeit des Buchführungsergebnisses und damit der vollständigen Erfassung aller Betriebseinnahmen der Klägerin keine Zweifel. Aus diesem Grund ist auch nicht entscheidungserheblich, welche Anforderungen an eine Barkasse zu stellen sind und ob das FG diese im Streitfall verkannt hat.
2. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO liegen nicht vor.
a) Die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung setzt voraus, dass das FG in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Gerichts abgewichen ist, dass dabei über dieselbe Rechtsfrage entschieden wurde und diese für beide Entscheidungen rechtserheblich war, dass die Entscheidungen zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sind, dass die abweichend beantwortete Rechtsfrage im Revisionsverfahren geklärt werden kann und dass eine Entscheidung des BFH zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich ist (vgl. u.a. Senatsbeschluss vom 16.11.2021 - IX B 37/21, Rz 7).
Im Einzelnen sind für die schlüssige Rüge einer Divergenz gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO die angebliche Divergenzentscheidung genau ‑‑mit Datum und Aktenzeichen oder Fundstelle‑‑ zu bezeichnen sowie tragende, abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und aus der behaupteten Divergenzentscheidung andererseits gegenüberzustellen, um die Abweichung deutlich zu machen. Dies erfordert auch die Darlegung, dass es sich im Streitfall um einen gleichen oder vergleichbaren Sachverhalt handelt, sodass sich in der angefochtenen Entscheidung und in der Divergenzentscheidung dieselbe Rechtsfrage stellt (Senatsbeschlüsse vom 14.03.2023 - IX B 60/22, Rz 4, und vom 09.04.2024 - IX B 42/23, Rz 9).
b) Demnach liegt die vom FA vorgebrachte Divergenz der angefochtenen Entscheidung zu anderen Entscheidungen nicht vor.
aa) Das FA rügt zunächst eine Divergenz hinsichtlich der Entscheidung des FG Münster vom 11.05.2023 - 8 K 520/22 E. Diese Entscheidung ist mit Urteil des BFH vom 29.07.2025 - VI R 6/23 (zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen) aufgehoben worden. Entscheidungen, die durch die Rechtsprechung des BFH aufgehoben worden sind, können eine Divergenz nicht (mehr) begründen (vgl. Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 188, m.w.N.).
bb) Soweit das FA eine Divergenz zu der Entscheidung des FG Köln vom 07.12.2017 - 15 K 1122/16 vorträgt, legt das FA nicht dar, dass es sich um gleiche oder vergleichbare Sachverhalte handelt. Zudem hatte das FG Köln in dem von ihm entschiedenen Fall in der Vergabe von nicht lückenlos fortlaufenden Rechnungsnummern gerade keinen formalen Mangel gesehen (vgl. FG Köln, Urteil vom 07.12.2017 - 15 K 1122/16).
cc) Der Umstand, dass das FG hinsichtlich der Anzahl der fehlenden Rechnungsnummern von einem falschen Sachverhalt ausgeht, vermag die Zulassung der Revision nicht zu begründen. Insoweit rügt das FA die fehlerhafte tatsächliche Würdigung durch das FG. Damit kann die Zulassung der Revision nicht erreicht werden.
3. Ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung hätte beruhen können (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), ist nicht vorhanden.
a) Es kann dahinstehen, ob der nach Ergehen des Endurteils gefasste Trennungs- und Einstellungsbeschluss hinsichtlich der in der mündlichen Verhandlung zurückgenommenen Klagegegenstände einen Verfahrensfehler begründet. Ein solcher wäre jedenfalls nicht entscheidungserheblich. Die Wirkung der Klagerücknahme nach § 72 FGO tritt kraft Gesetzes ein, sodass ein Einstellungsbeschluss nur deklaratorischen Charakter hat (vgl. Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 72 Rz 30, m.w.N.). Mit dem Endurteil vom 21.11.2024 war das Verfahren daher vollumfänglich abgeschlossen. Der Trennungsbeschluss vom 22.11.2024 ging mithin ins Leere.
Das FA hat weder vorgetragen noch bestehen sonst Anhaltspunkte, dass bei prozessual zutreffender Handhabung (zum Beispiel Einstellung des Verfahrens im Tenor des finanzgerichtlichen Urteils oder Trennungsbeschluss und Einstellungsbeschluss hinsichtlich der zurückgenommenen Klagegegenstände vor Erlass des Endurteils) das angefochtene Urteil für die hinsichtlich des Veranlagungszeitraums 2013 noch streitbefangenen Steuerbescheide anders ausgefallen wäre.
b) Soweit das FA sich auf eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1, § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) beruft, hat es in der mündlichen Verhandlung vor dem FG keine Beweisanträge gestellt. Es hat damit sein Rügerecht in Bezug auf die geltend gemachte Verletzung der Sachaufklärungspflicht verloren (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung; vgl. u.a. Senatsbeschlüsse vom 08.04.2022 - IX B 10/21, Rz 9, und vom 17.11.2022 - IX B 82/21, Rz 8).
4. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.